Debatte zu Pflegeversicherung: Die neuen Körperklassen

Mit vollen Windeln zu lange im Bett: Die Pflegefrage berührt Tabuzonen in der Leistungsgesellschaft. Der „Pflege-Bahr" verstärkt die Schieflage.

Kommt jemand, um zu helfen, wenn die Klingel gedrückt wird? Das ist die entscheidende Frage. Bild: sör alex / photocase.com

So viel Misserfolg war selten. Vor „schwer kalkulierbaren“ Tarifen warnt die Versicherungswirtschaft. Geringverdiener blieben außen vor, rügen die Gewerkschaften. Die geplante Pflegezusatzversicherung von Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) stößt bei Wirtschaft und Sozialverbänden auf Skepsis und Ablehnung. Die staatlich geförderte Zusatzvorsorge soll die Finanzierung der Pflege verbessern, doch sie wirft erst recht ein Schlaglicht auf die ungelösten Gerechtigkeitsfragen, die sich in der Versorgung Älterer stellen.

Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) möchte Policen für eine private Pflegezusatzversicherung mit monatlich 5 Euro staatlich bezuschussen, wobei ein Eigenbeitrag des Versicherten geleistet werden muss. Diese freiwillige Zusatzversicherung, auch „Pflege-Bahr“ genannt, soll im Bedarfsfall den BürgerInnen helfen, Zahlungen aus der bisher schon bestehenden allgemeinen Pflegeversicherung privat zu ergänzen.

Was gut klingt, dürfte soziale Schieflagen verstärken: zwischen denjenigen, die sich die Prämien für die Zusatzversicherung leisten können, und jenen, die einfach zu wenig Geld zur Verfügung haben. Daran ändern auch die 5 Euro staatlicher Förderung im Monat wenig. Denn Zusatzversicherungen kosten ordentlich Geld.

Eine 50-jährige Frau, die in der Pflegestufe II bei ambulanter Versorgung ergänzend monatlich 600 Euro zur Verfügung haben möchte, zahlt heute bei Neuabschluss und einer erleichterten Gesundheitsprüfung eine monatliche Prämie von 63 Euro im Monat. Die Prämien des „Pflege-Bahr“ dürften noch teurer werden, da die Versicherungen jeden Antragssteller ohne Gesundheitsprüfung aufnehmen müssen.

Der „Pflege-Bahr“ fördert die Privatisierung der Pflegekosten. Dabei ist schon heute bei den Betreuungsarrangements viel privates Geld nötig. Das Spektrum der „Körperklassen“ ist breit, und letztlich geht es immer um die Verteilung von „Versorgungszeit“.

Premiumheime mit hoher Eigenbeteiligung

Den besten Personalschlüssel bieten hotelähnliche 5-Sterne-Residenzen wie etwa die „Tertianum“-Kette. In diesen Premiumheimen werden aber Eigenbeteiligungen zwischen 3.000 und 5.000 Euro im Monat fällig. Dann gibt es die Zukunftshoffnung „Demenz-Wohngemeinschaften“, die durch die Pflegereform der Bundesregierung zusätzliches Personal erhalten.

Auch hier ist der finanzielle Eigenbeitrag der Bewohner meist etwas höher als im herkömmlichen Heim. Der Begriff „Wohngemeinschaft“ beschönigt jedoch: In den Pflegeeinheiten kommt es wie in den großen Heimen auch vor allem darauf an, dass genug Personal zum Toilettengang, Waschen und Beruhigen zur Verfügung steht.

Die Betreuungszeit zählt. Das zeigt sich erst recht im halblegalen Privatmodell mit osteuropäischen Pflegekräften, die im Haushalt mitwohnen. Ungefähr 1.500 Euro im Monat sind dafür an Eigenmitteln aufzubringen.

Die Leistungen aus der allgemeinen Pflegeversicherung decken dabei niemals den Bedarf. Für zwei Einsätze am Tag, morgens und mittags, mit einem Zeitaufwand von insgesamt 105 Minuten verlangt etwa eine Sozialstation in Rheinland-Pfalz 2.000 Euro im Monat, die Pflegekasse zahlt davon nur 1.100 Euro, es bleiben 900 Euro privat aufzubringen.

Würde und Kränkung

Und dann ist immer noch ungeklärt, wer der alzheimerkranken Mutter am Abend die Windeln wechselt, sie wäscht und zu Bett bringt. Der Anteil der Eigenmittel an den Pflegemodellen ist hoch. In einem Wochenbericht stellte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fest, dass Deutschland etwa im Vergleich zu den Niederlanden wenig öffentliches Geld für die Pflege ausgibt.

Die Pflege ist so teuer, weil der Zeitaufwand für einen Pflegebedürftigen hoch sein kann, und das jahrelang. Das wird umso deutlicher in einer Erwerbsgesellschaft, in der nicht mehr unbegrenzt Haus- und Ehefrauen zur Verfügung stehen, um die private Pflege von Verwandten zu leisten.

Der Pflegebereich ist der Lackmustest für die Ethik einer Leistungsgesellschaft, die nicht wahrhaben will, dass nun ausgerechnet für verwirrte, inkontinente Menschen Milliarden von Euro ausgegeben werden sollen, auch wenn diese BürgerInnen keinen sichtbaren Beitrag mehr für die Allgemeinheit leisten. Es geht nur um die Würde. Die Würde ist eben doch schwerer zu bewahren, als man dachte. Auch dies ist eine Kränkung, der sich die alternde Gesellschaft stellen muss.

Wie weit soll die Allgemeinheit das Recht auf Würde im Alter finanzieren oder dem persönlichen Schicksal und Bankkonto überlassen? Die schwarz-gelbe Pflegereform, die am heutigen Freitag im Bundestag verabschiedet werden soll, bietet dazu nur kleine Verbesserungen. So gibt es etwa ein bisschen mehr Geld für Demenzkranke, der Pflegebeitrag soll auf 2,05 Prozent vom Bruttolohn steigen.

Am grundsätzlichen Problem, dass zu viele gebrechliche Menschen zu viel Zeit im Bett verbringen, und dies mit vollen Windeln, und dass deren Zahl steigen wird, ändert das wenig.

Mit 5 Euro staatlicher Förderung im Monat für eine Privatversicherung kann sich der Gesundheitsminister nicht freikaufen von den Versorgungsmängeln. Eine Gesellschaft, die möglichst alle Frauen in die Erwerbstätigkeit schicken will, sollte auch nicht mehr allzu sehr die Pflege durch die Familie beschwören, um sich vor den Verteilungsfragen zu drücken.

SPD hat etwas begriffen

Die oft angekündigte Einführung eines neuen „Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ könnte dazu führen, dass die Betreuungsschlüssel in Pflegeheimen und die Leistungen der Pflegeversicherung verbessert werden. Pflegezeit ist gekaufte Versorgungszeit. Jede Pflegereform braucht dazu mehr Geld im System. Es ist mutig, wenn der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel ankündigt, den Pflegeversicherungsbeitrag auf 2,5 Prozent vom Einkommen erhöhen zu wollen, sollten die Sozialdemokraten an die Macht kommen.

Die Frage lautet: Sind die Mittelschichten überhaupt bereit, einen höheren Beitrag zur allgemeinen Pflegeversicherung zu zahlen, damit auch die ärmeren Milieus akzeptabel versorgt sind? Oder entwickelt sich eine Körperklassengesellschaft wie in früheren Zeiten: Die einen werden umsorgt, die anderen nicht?

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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