Debatte: Arbeitslose Trendsetter

Markenfirmen entdecken die popkulturelle Szene als Werbeträger. Bei diesen Lifestyle-Produzenten wird Individualität zur Ware. Ein Fulltime-Job, der aber nicht als Arbeit gilt.

Michel ist Anfang 30. Tagsüber ist er in den Berliner Szenecafés, nachts auf allen wichtigen Partys anzutreffen. Er trägt hippe Klamotten, besitzt über hundert Paar Turnschuhe und scheint nichts zu vermissen. Eine Anstellung hat er allerdings nicht.

Michel ist nicht Teil jener selbsternannten "digitalen Boheme", die Holm Friebes und Sascha Lobos vieldiskutiertes Buch "Wir nennen es Arbeit" feiert. Michel braucht kein Internet als Metapher, um sich seines Netzwerks zu versichern, und auch kein Laptop, um sich ins Café zu setzen. Vor allem aber nennt Michel "es" nicht Arbeit. "Wir machen nichts, hängen den ganzen Tag rum und werden gesponsert", erklärt er.

Michel ist Teil einer popkulturellen Szene, ist Trendsetter. Medial vervielfältigt durch Fernsehen und Magazine, findet das Szenetreiben von Berlin-Mitte in der deutschen Provinz wie in internationalen Metropolen Publikum und Nachahmer. Das macht seine Protagonisten interessant für Marketingagenturen, die ständig darum bemüht sind, die Produkte ihrer Auftraggeber mit "Bedeutung" aufzuladen. In einem Schauspiel, das vor allem Lifestyles und die dazugehörigen Gadgets verkaufen soll, sind Menschen die wichtigsten Medien. "Das globale Netzwerk aus Opinionleadern, Artists und kreativen Zellen ist das Tool zur Umsetzung einer erfolgreichen und trendorientierten Markenführung", formulierte die Agentur Movement Marketing einst auf ihrer Website. Kaum verwunderlich also, wenn dieses Netzwerk großzügig unterstützt und, wo nötig, so Michel, "in eine bestimmte Richtung gelenkt" wird. Textilkonzerne finanzieren schon einmal den Betrieb einer "illegalen Bar" in einem Abbruchhaus, zu der 200 Schlüsselfiguren der Szene einen symbolischen Schlüssel bekommen. Einzige Auflage: Ein Kreis von Freunden, die dort regelmäßig "abhängen", trägt die Klamotten des Sponsors zur Schau. "Below-the-line Marketing" oder "Individual Sponsoring" nennen die Agenturen solche Praktiken, über die sich der Lifestyle von Michel und anderen finanziert: der Lifestyle von Lifestyle-Produzenten.

Die weitgehend verborgenen ökonomischen Strukturen sind aber nur ein Aspekt. Spezifisch ist auch das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Selbstverwirklichung. Dabei radikalisiert der Lifestyle-Produzent ein Ideal des symbolischen Selbstentwurfs, das latent auch schon bei der eingangs erwähnten "digitalen Boheme" zu entdecken ist.

Digitale Bohemiens verachten ihre "Brotjobs", mit denen sie Durststrecken überwinden, und finden Erfüllung in jenen selbstgewählten Projekten, an denen sie in der verbleibenden Zeit herumwerkeln. Glaubt man ihren Namensgebern, sind sie viel glücklicher als jene, die im "Brotjob" ihre eigentliche Arbeit und im Herumwerkeln ihre Freizeitbeschäftigung sehen. Der Vergleich eines projektierenden 400-Euro-Jobbers mit einem deprimierten Hartz-IV-Empfänger zeigt, dass es nicht ausschließlich um materielle Versorgung geht.

Die symbolische Bedeutung einer Tätigkeit und ihre direkte Auswirkung auf die Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation werden bei den Lifestyle-Produzenten schließlich manifest. Dieses Phänomen wird in den aktuellen Debatten über die "Arbeitsgesellschaft" und ihre verwandten Themen wie Bürgergeld oder Prekariat gewöhnlich ausgeblendet: Im Zentrum stehen die traditionellen Schemata wie etwa Arbeitszeit, Einkommen oder die Garantie des Arbeitsplatzes. Selbst die "digitale Boheme", von Lobo und Friebe als das Modell künftiger Erwerbstätigkeit gefeiert, definiert sich - wenn auch ex negativo - über diese Kategorien. Die Lifestyle-Produzenten brechen nun ganz explizit mit der gewohnten Begriffsordnung.

Denn "Opinionleader" kann nur werden, wer nicht klassisch erwerbstätig ist. Michel beschreibt es süffisant: "Man muss viel Zeit verbringen und sich in Cafés rumlümmeln. Man muss halt arbeitslos sein." Arbeitslos sein heißt hier keineswegs nichts tun. Michel kokettiert zwar mit einem müßiggängerischen Habitus, tatsächlich aber beschreibt er einen Fulltime-Job. Sein Gestus ist kalkulierte Zurschaustellung idealer Selbstverwirklichung und Selbstbestimmtheit. Weil die Lifestyle-Produzenten darin dem gegenwärtigen Individualitätsdogma in beispielloser Konsequenz entsprechen, orientiert sich die "Sekundärzielgruppe" - die Konsumenten - an ihnen. Als Alltags-Celebrities geben sie dem abstrakten Selbstverwirklichungs-Imperativ Gestalt, rücken seine Erfüllung in greifbare Nähe.

Aber werden die Lifestyle-Produzenten diesem Anspruch der exzessiven Individualität gerecht? Begeben sich die Gesponserten nicht zwangsläufig in die Abhängigkeit straff kalkulierender Konzerne? Doch gerade diese vermeintliche Instrumentalisierung ist wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses der Lifestyle-Produzenten. So betont Michel zwar immer wieder, dass "die Sponsoren großen Wert darauf legen, dass wir nicht bekannt machen, dass wir gesponsert werden". Doch offenbar ist er auf dieses Sponsoring so stolz, dass er es mehrfach erwähnen muss. Erst durch das Sponsoring findet er zu seiner Identität.

Das Sponsoring hat hohe Suggestivkraft. Wer das Ideal verkörpert, wird gesponsert; gesponsert zu werden wird schließlich zum Ideal für viele - das Indiz wirkt konstitutiv. Nicht umsonst übertreiben die Opionionleader offensichtlich gern bei der Schilderung der Sponsorenleistung: Nur die wenigsten kommen ohne zusätzliche Verdienstquelle aus. Solche "Gelegenheitsjobs" mögen sehr zeitintensiv und materielle Existenzgrundlage sein, sie erzeugen aber keine Identifikation. Das Sponsoring hingegen verbrieft die Vorbildfunktion und wirkt damit identitätsstiftend. Die materielle Entlohnung wird zur Nebensache.

Wie bei Inga zum Beispiel. Sie betreibt ihr eigenes Musiklabel, das unter anderem die erfolgreiche Band Mia unter Vertrag hat. Finanziell hat sie es nicht nötig, sich von Textilunternehmen ausstatten und das Outfit vorschreiben zu lassen - sie besteht sogar darauf, sehr "eigenwillige Kreationen" zu tragen. Dennoch ist sie stolz auf ihre pinkfarbene Nike-Jacke: Das sei ein Prototyp, den sie von einer Marketingagentur bekommen habe, weil sie "Trendsetterin" sei. So beschreibt sie sich selbst wörtlich.

Lifestyle-Produzenten können durch ihre identitätsstiftende Tätigkeit die negativen Effekte von Arbeitsplatzunsicherheit oder geringem Einkommen zumindest ausgleichen. Angesichts der Debatte um Bürgergeld und Hartz IV, die sich unausgesprochen längst auch um den Aspekt der Zufriedenheit dreht, stellt sich die Frage nach dem Modellcharakter dieses Phänomens. Allerdings kann der Lifestyle-Produzent keine Massenerscheinung sein, weil er die Masse als "Sekundärzielgruppe" braucht, als die Endverbraucher, die seinen Lifestyle zu reproduzieren suchen. Erst die Vorbildfunktion verdichtet seine Lebensweise zur Bildhaftigkeit. Erst die Nachahmung macht sie zum Produkt und ihn zum Produzenten.

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