Demenzkranke: „Ich habe ein Leben gehabt“

Zehn Demenzkranke in einer WG: Wenn Kathrin Pläcking alte Menschen betreut, sieht sie Möglichkeiten, nicht Grenzen. So kam sie auf einen schockierenden Zukunftsroman.

Vergessen. Zurückerinnern. Bei Demenzkranken sind Erinnerungen nicht austauschbar – sie kommen in Bewegung. Bild: Stefan Pangritz

FREIBURG taz | Der Bundeswehrpilot sitzt auf dem Bett im Zimmer der Schauspielerin. Mit ihr und neun anderen lebt er in einer Wohngemeinschaft für Demente. Soeben hat er die Wäscheschublade der Diva durchsucht und einen Kleiderbügel gefunden. Den dreht er wie einen Propeller. Ist es ein Hubschrauber? Ein Windrad? Irgendwas mit Luft? Der Oberstleutnant weiß es nicht.

Kathrin Pläcking, eine Pflegerin, ist dem Piloten nachgegangen und versucht, den stattlichen Mann zu überreden, das Zimmer zu verlassen. Aber gerade ist es seines. Pläcking betreut die Dementen. Sie ist ein ruhiger Mensch, beobachtet scharf, guckt hinter das, was sie sieht.

Auf einem Schränkchen im Zimmer der Schauspielerin stehen alte Fotos – eine schöne Frau zu Pferde. Ob die Reiterin die Frau ist, die im Zimmer wohnt? Da der Pilot oft durch die Räume der Wohngemeinschaft wandert, sie sich aneignet für einen Augenblick, Sachen mitnimmt – Fotos, Vasen, Wäsche – und diese mit sich herumträgt, ist unklar, ob am Ende die richtigen Dinge wieder in den Zimmern landen, aus denen er sie genommen hat. So wird Erinnerung austauschbar.

„Nein“, widerspricht Kathrin Pläcking, „die Erinnerung kommt in Bewegung, wird modifizierbar, wird weich.“ Die Schauspielerin bemerkt von all dem nichts. Sie sitzt im Rollstuhl am Esstisch in der Wohngemeinschaft. Eine Pflegerin führt eine Gabel mit Kuchen an ihren Mund und wartet, bis sie ihn öffnet.

WG für Demenzkranke

Zehn Demenzkranke zwischen 73 und 92 Jahren leben in der Lise-Meitner-Str. 8 in Freiburg. Sie gehen, sprechen und erinnern sich später daran – oder auch nicht. Sie summen, singen, gießen Blumen – oder auch nicht. Sie waschen ab, lesen Zeitung, putzen sich die Zähne – oder auch nicht. Sie kaufen Toast und Eier ein – nicht allein. Die meisten wissen noch ihren Namen. Sie waren früher Logopädin, Pastor, Lehrerin, Hausfrau, Mutter. Der Pilot ist der Jüngste – mehr blond als grau, schneidig, aufrecht, schlank. Ein schöner Mann. Ein ruheloser Geist.

Aus Kathrin Pläckings Aufzeichnungen: Der Pilot ist zwei Meter groß. Er steht auf dem Tisch. Vorsichtig steigt er zwischen der Vase mit den Blumen, der Milch und Marmeladen herum. „Eine total zerpflichtete Besorgung, Besargung“, erklärt er. Ich steige auch auf den Tisch. „Willst du spitzeln?“, fragt er.

Die Demenz-WG, „Woge“ heißt sie, ist im Vauban – dem neuen Freiburger Stadtteil, wo die Stadtplaner damit experimentieren, Ökologisches, Soziales und gutes Leben zusammenzubringen. Ein Haus mit Holz isoliert, freundliche Räume, ein großer Garten. Blumen blühen. Erdbeeren werden reif. Unweit des Hauses sind Bahngleise: Hamburg–Zürich, Berlin–Interlaken. Vorbeifahrende Züge sind zu hören, wie Musik.

Miete, Essen, Betreuung in der WG kosten zweitausend Euro pro Person. „Es ist nicht wie Urlaub. Wenn es hier zu Ende ist, ist es zu Ende, also nicht mit mir zu Ende“, sagt eine, die früher viel gereist ist als Gattin eines Diplomaten. Und eine andere, die sich an eine Fluchtgeschichte aus Schlesien am Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert, nur dass die Erinnerung jetzt weich und versöhnlich klingt, wie aus einer anderen Welt, sagt: „Ich werde hier gut versorgt.“ Warum sie aber hier sei, das wisse sie nicht. Sie habe ein Leben gehabt.

Sind die Alten eine Last?

Demografie ist so ein großes Wort. Es schlägt in Richtung der Alten. Von denen gebe es immer mehr. Dieser Umstand hat Echos – negative. Es heißt: Weniger Junge müssen für mehr Alte bezahlen. Die Solidargemeinschaft funktioniere so nicht. Es heißt: Weil die Leute immer älter werden, gebe es immer mehr Demente. Die Alten seien eine Last. Altenpflege sei eine Dienstleistung ohne Rendite. Es drohe ein Pflegenotstand. Jung sein wird wie ein Traum gehandelt, alt sein wie eine Wirklichkeit.

Immer mehr Alte gibt es also: und deshalb auch immer mehr Menschen, die sich „zurückerinnern“, wie eine der Bewohnerinnen sagt. Wer Geld hat und Glück, weil es einen freien Platz gibt, darf als Zurückerinnernde in einer Wohngemeinschaft wie der Woge leben.

Aus Pläckings Aufzeichnungen: Gestern sagte Frau B., die ganz Alte, die Logopädin: „Ich möchte mich etwas hinlegen. Neben einen Konjunktiv.“

Kathrin Pläcking ist 53 Jahre alt. Sie arbeitet Teilzeit in der Wohngemeinschaft, eine Viertelstelle hat sie. Dazu ein paar Einnahmen als Fußpflegerin. Mehr Stunden als Pflegerin würde sie ungern machen – der Zeitdruck, den sie in Alteneinrichtungen zuletzt erlebt hat, die Arbeitsbelastung, jeden Schritt wolle der Träger quantifiziert haben, sagt sie. Sie kann nicht sehen, wie in der Quantifizierung der Arbeit eine Qualität liegen soll.

In einer Einrichtung wie der Wohngemeinschaft im Vauban könne man als Altenpflegerin noch Mensch sein, nicht nur Maschine. Ursprünglich hat sie Landwirtschaft studiert und Mathematik – nicht zu Ende.

„Erinnerungen sind das einzige, was bleibt“

Pläcking wohnt fünf Kilometer von der Woge entfernt in einer spartanisch eingerichteten Wohnung in Littenweiler, jenem Stadtteil von Freiburg, der direkt in den Schwarzwald führt. Die zwei Zimmer, die Küche mit ihren Gebrauchsmöbeln – Tisch, Stuhl, Bett, roter Überwurf, ein paar Bücher im Regal, ein paar Postkarten an den Wänden – wirkt, als könnte Pläcking jederzeit die Koffer packen und gehen. In ihrer Küche hat sie Fotos ihrer Großmütter hängen. Eine, ihre Lieblingsoma, die Bäckersfrau, wurde 92 Jahre. Im Ersten Weltkrieg verlor sie ihr Geld, im Zweiten ihr Haus, habe sie immer erzählt. Und sie mahnte. „Schafft euch Erinnerungen.“ Das sei das Einzige, was bleibt.

Pläcking wohnt gerne hier. Hinter dem Haus hat sie ein Stück Rasen gekapert und Blumen gesät. „Ich bin in dem Alter, wo ich mich daran gewöhnen möchte, am Fenster zu sitzen und hinauszuschauen“, sagt sie.

Aus Pläckings Aufzeichnungen: Frau R. im Bad, endlos schrubbt sie abends an ihrem Gebiss. Ich sitze auf dem Klodeckel, gar nicht verberge ich meine Ungeduld, vernehmlich seufze ich. Da dreht sie sich zu mir um, schaut mich an. Sagt sie: „Ist es nicht schön, dass ich dir so viel Zeit schenke?“

Science-Fiction-Roman

Pläcking hat einen Roman geschrieben. Er ist Science-Fiction, Gesellschaftskritik und Krimi in einem. „Erste Wahl“ heißt er und spielt in einer Zeit, in der die Partei namens „der Fortschritt“ regiert. Die hat einige Probleme – nicht nur mit Demokratie und Meinungsfreiheit, auch mit Demografie.

Um die Kosten für die Alten zu beschneiden, beschließt die Fortschrittspartei Folgendes: Volle Rente bekommen Leute ab 70 Jahren. Mit 75 müssen sie sich entscheiden. Entweder sie bekommen, bis sie 85 sind, nur noch die Hälfte und fliegen dann raus aus allen sozialen Sicherungssystemen. Oder: Sie entscheiden sich für ein Szenario namens „Erste Wahl“: Der Verzicht auf Rente und Krankenversicherung wird mit einer einmaligen, hohen Abfindung honoriert. Ist die Summe aufgebraucht, können sie sich umbringen, dabei wird gerne assistiert.

Auf diesem Tableau entwickelt Pläcking eine Familiengeschichte, die zwischen fünf Geschwistern spielt. Die Älteste, Susanne, bald 75, wird dement. Der Jüngste, 67 hat sich von der Familie abgesetzt, will ständig sein Glück machen und scheitert. Die drei anderen Geschwister lehnen, obwohl sie nicht wohlhabend sind, die „Erste Wahl“ ab und versuchen, Susannes Leben irgendwie zu organisieren. Als der jüngste Bruder doch wieder in die Familie einbezogen wird, manipuliert er die demente Susanne so, dass sie sich für die „Erste Wahl“ entscheidet. Das Geld geht auf sein Konto.

Pläcking entwickelt Szenarien, wie die immer älter werdenden Menschen im Roman mit immer weniger Geld überleben, wie sich zaghafter Protest gegen „die Fortschrittspartei“ aufbaut, wie Demenz die Persönlichkeit der älteren Schwester verändert, aber nicht ihren Willen, wie der jüngste Bruder, nachdem er Susannes Geld verprasst hat, wieder auftaucht. Im Roman wird eine böse gesellschaftliche Vision entwickelt, die – und das macht die Spannung aus – denkbar ist, wenn Altsein, so wie bisher, als Makel gesehen wird. Am Ende gelingt es der Autorin im Roman aber doch, eine positive Utopie Wirklichkeit werden zu lassen.

Diplomatengattin liebt Piloten

Zurück in der Woge: Die Logopädin sitzt am Tisch und beobachtet alle. Die Dolmetscherin, geboren in Casablanca, läuft summend durch die Räume. Bonjour Madame, ça va? Sie lächelt. Die Hausfrau sitzt mit Handtasche auf ihrem Schoß in einer Ecke und wartet. Die Diplomatengattin, ganz in Grün gekleidet, hat sich verliebt und umarmt den Piloten, der einen unreifen Pfirsich aus seiner Tasche zieht. „Grün, grün, grün sind alle meine Kleider“, singt die Diplomatengattin, „grün, grün, grün ist alles, was ich hab.“ Die Sekretärin stimmt mit ein. „Darum lieb ich alles, was so grün ist, weil mein Schatz ein Jäger, Jäger ist.“

Die Alten in der Demenz-WG sind wie Durchreisende. Als stünden sie schon halb im Unbewussten. Sie zu fragen, was sie uns noch sagen wollen, wäre irrelevant, meint Pläcking. „Sie wollen uns nichts sagen, aber wir sollen ihnen zuhören.“ Nicht für sie, sondern für uns.

Aus Pläckings Aufzeichnungen: Frau O. fragt: „Was ist der Plural von zwei?“ Langes Nachdenken: Ein Pflegerin antwortet: „Zweifel?“ Frau O. lacht. Eine andere Pflegerin sagt: „Zwölf?“ Frau O. lacht. Ich sage: „Zwiebel?“ Fr. O. lacht.

Der Roman „Erste Wahl“ von ist im Mabuse Verlag erschienen, 184 S., 16,90 Euro
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