Deniz Yücel seit einem Jahr in Haft: Wir zählen die Tage rückwärts

Wie waren die letzten zwölf Monate für Deniz Yücels Freunde und Unterstützer? Und wie ist es, in dieser Situation ein Buch mit ihm herauszugeben?

Menschen, über deren Köpfen T-Shirts mit dem Aufdruck „Free Deniz“ und seinem Porträt hängen

Eine von zahlreichen Aktionen der letzten 365 Tage: Auf dem Dach der taz versammeln sich Unterstützer zum Protest Foto: Karsten Thielker

Das Buch eines Autors herauszugeben, der im Gefängnis sitzt, ist nicht frei von Komik. Schon gar nicht, wenn man es mit einem Autor zu tun hat, der über die Frage, ob in diesem oder jenem Satz Semikolon, Klammer oder Gedankenstrich zu setzen sei, genauso intensiv diskutieren will, wie darüber, ob es angemessener ist, von einer „Spaltung“ oder einer „Trennung“ der Gesellschaft zu schreiben.

Was unter normalen Umständen normal wäre, wird bizarr, wenn man den Autor weder sehen noch mit ihm telefonieren oder mailen kann und er auch keinen Zugang zu einem Briefkasten hat. Für die „Diskussion“ über Auswahl und Änderungen der Texte für sein Buch müssen Autor wie Herausgeberin und Verlag darauf warten, dass ein Anwalt den Autor besuchen kann. Denn nur dieser kann dem Inhaftierten Unterlagen zeigen und Anmerkungen entgegennehmen und sie zurückübermitteln.

„Doppeltes Leerzeichen auf Seite 183, 3. Absatz“, lautete eine wochenlang wiederholte, weiter nicht kommentierte Notiz des Autors unter den hunderten Notizen. Ein Detail, was nicht weiter der Erwähnung wert wäre, säße der Autor nicht in Einzelhaft in einem Hochsicherheitsgefängnis und wäre es nicht mindestens so aufwendig, diese Mitteilung an den Empfänger zu bringen wie ein Gabelflug von Istanbul zu den Galapagos-Inseln.

Man hätte denken können, das doppelte Leerzeichen habe der Inhaftierte hinter all den drängenderen Sorgen längst vergessen. Ein Detail, was mich irre machte, denn ich fand einfach kein doppeltes Leerzeichen auf Seite 183, 3. Absatz. Die Absatzangabe stimmte offenbar nicht. Es musste aber irgendwo ein Leerzeichen zu viel sein, denn der Autor ist ein großer Pedant und keine noch so kleine Ungenauigkeit entgeht ihm, auch nicht der türkische Punkt auf dem großen I in Istanbul oder Ilkay.

Ich verfluchte den Autor und seine Pedanterie und dass ich meine Zeit mit der Suche nach einem doppelten Leerzeichen verschwendete, anstatt mich darauf zu konzentrieren, wie ich ihm meine Argumente für diesen und jenen Text so kurz und pointiert wie möglich darlegen könnte. Denn die „Diskussion“ über einen in das Buch aufzunehmenden Text wollte ich pro Mitteilung auch nicht länger als nötig machen. Längere Ausführungen hätten – ich kenne den Autor gut – die Debatte über die Auswahl nur verlängert.

Auf alle Fälle vorbereitet

Oft lautete eine seiner Anmerkungen: „Bitte hierzu Änderungen aus den 400 eingeben“. Mit den 400 meinte er den aus über 400 handgeschriebenen Seiten bestehenden Anmerkungsapparat, den er seinen Anwälten mitgegeben hatte, als wir das Buchprojekt begannen. Hier waren allerlei Informationen und Diskussionspunkte versammelt, was Vorauswahl der Texte, Überschriftenvarianten und andere im Verlauf der Produktion möglicherweise auftauchenden Fragen betraf. Selbst für den Fall, dass die türkische Regierung einen Uniformzwang für politische Gefangene einführen würde, hatte der Autor Ideen, wie es dann mit der Erstellung des Buchs weitergehen könnte.

Warum ich dennoch nicht verzweifelte, wenn ich diese elende doppelte Leerzeichen oder eine kurze Anmerkung in den 400 Seiten nicht fand, auf die er mich immer wieder kommentarlos in seinen Anmerkungen hinwies, lag allein daran, dass ich wusste, dass der Autor mit derselben Pedanterie, mit der er formale Fragen behandelte, auch die inhaltlichen Fragen seiner Texte behandelt hatte.

Auf die Idee für das Buch kam er, weil er gehört hatte, dass bei den Lesungen seiner Texte, die der Freundeskreis #FreeDeniz in Zusammenarbeit mit dem Festsaal Berlin, dem Schauspiel Frankfurt, den Münchner Kammerspielen, dem Uebel&Gefährlich in Hamburg und dem WDR in Köln das Jahr über organisiert hatte, Hunderte nicht reinkamen. Dann sollen sie seine Texte wenigstens in Buchform nachlesen können. Schließlich waren es seine Texte, die – wenigstens sieht es die türkische Justiz so – ihn in diese Situation gebracht hatten.

Deniz Yücel ist ein Fan. Des Fußballs. Des Fisches. Und der Menschen. Er glaubt an ein großes Wunder

Als Deniz am 14. Februar 2017 auf das Polizeipräsidium in Istanbul ging, um zu erfahren, warum gegen ihn ermittelt werde, wusste man dort zunächst von nichts. Man hielt ihn vorsichtshalber trotzdem in Gewahrsam. Zwei Wochen später erfuhr der Journalist während einer Anhörung durch den Staatsanwalt, dass ihm einige seiner veröffentlichten Korrespondentenberichte als „Terrorpropaganda“ und „Volksverhetzung“ ausgelegt wurden, weswegen der Haftrichter ihn am 27. Februar 2017 in Untersuchungshaft schickte. Seitdem hat Deniz sein Leben in einer Gefängniszelle des Hochsicherheitsgefängnisses von Silivri verbracht.

Journalistenpreise oder Knast

Zwei dieser als „Beweise“ der Anklage geltenden Texte sind nun, ein Jahr später, in dem am 14. Februar erscheinenden Buch „Wir sind ja nicht zum Spaß hier“ nachgedruckt: das Interview mit dem Vizechef der PKK („Ja, es gab interne Hinrichtungen“) und die Geschichte über den Machtausbau des türkischen Staatspräsidenten („Der Putschist“). In anderen Ländern kriegt man für solche Texte Journalistenpreise. In der aktuellen Türkei kriegt man dafür Knast.

Für seine Fußball-WM-Kolumne „Vuvuzela“ wurde Deniz Yücel 2011 der Kurt-Tucholsky-Preis verliehen. Seit er im Gefängnis ist, hat man ihm weitere deutsche Journalistenpreise in Abwesenheit verliehen, darunter den Theodor-Wolff-Preis. Fürs „Dummrumsitzen“, wie der inhaftierte Autor es in seiner unverwechselbaren Offenherzigkeit formulierte.

Deniz Yücel: „Wir sind ja nicht zum Spaß hier“. Herausgegeben von Doris Akrap. Nautilus Flugschrift, Hamburg 2018, 224 Seiten, 16 Euro

Das stimmt natürlich nicht ganz. Er hat die Preise zwar auch als Geste der Solidarität erhalten. Aber auch, weil in allen seinen Texten etwas durchschimmert, was niemand übersehen kann: So leidenschaftlich sind sie im Eintreten für Gerechtigkeit, so präzise in der Beschreibung der Widersprüche, die eine klare Trennung von Gut und Böse unterlaufen. Yücels Reportagen, Porträts, Interviews und Analysen aus der Türkei gehören in ihrer Genauigkeit und mit ihrer Perspektive zu den differenziertesten journalistischen Beiträgen über dieses Land, das neben Deniz Hunderte weitere Journalisten, Beamte, Akademiker und Zivilisten unter ähnlich absurden Vorwürfen angeklagt und inhaftiert hat.

Was falsch ist und was komisch

Trotzdem sollte dieses Buch von Deniz keines werden, das nur seine Beiträge aus der Türkei versammelt, sondern eine Auswahl seiner Texte aus der Jungle World, der taz und der Welt aus den vergangenen 13 Jahren. Die versammelten Texte sollen zeigen, dass Deniz nicht nur da, wo Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch jedem halbwegs Zurechnungsfähigen auffallen, genau beobachtet und präzise beschreibt, was falsch ist und was komisch. Das Buch soll zeigen, dass er diese Fähigkeit auch da nicht vernachlässigt, wo es vergleichsweise harmloser zugeht und wo die vermeintlich Verbündeten sitzen, in Deutschland, bei den Linken, bei den Ökos, bei den Journalisten.

Deniz Yücel ist ein Fan. Des Fußballs. Oder des Fisches. Vor allem aber der Menschen. Deswegen ist er so kompromisslos und heftig in seiner Leidenschaft für sie, wie es nur Liebende sein können. Er glaubt an das Einzige, an das zu glauben sich lohnt, an ein großes Wunder: Menschen können sich verlieben. In einen anderen Menschen und in die Idee, dass das Leben ein besseres wäre, lebten wir alle in Freiheit und Gleichheit. Wie sonst könnte er noch mit so viel Empathie über die Bewohner des Landes schreiben, das vor und nach ihm Tausende ihrer Freiheit beraubt hat? Wie sonst könnte er über die Marotten der Deutschen so ironisch und beharrlich schreiben, wenn ihm diese nicht so sehr am Herzen lägen?

Die Frage danach, wie schwer es ist, ein Jahr lang als Feierabendbeschäftigung die Inhaftierung von Deniz als politisches Thema in der Öffentlichkeit zu halten, werde ich dieser Tage als Teil des Freundeskreises oft gefragt. Was soll ich dazu sagen, außer: Einfacher wird es nicht.

Es ist immer ein Tag weniger

Grundsätzlich hat sich jedoch seit einem Jahr nichts verändert. Jeder wünscht sich jeden Tag, dass Deniz keinen Tag länger im Gefängnis verbringen muss. Und es verhält sich so, wie Deniz es mal schrieb: Wir zählen die Tage rückwärts. Es ist immer ein Tag weniger, den er und Dilek, seine Ehefrau, sich nicht sehen.

Und so halten wir es auch in dem Kreis von Leuten, die anlässlich des Erscheinens dieses Buchs am 14. Februar erneut eine große Lesung im Festsaal Kreuzberg organisiert haben: Jeder Tag ist wieder ein Tag weniger, den wir mit WhatsApp- und Signalchats, Korsoroutenplanung, Vorbereitung von Solikonzerten wie am Brandenburger Tor und Koordina­tions­treffen verbringen.

Es gibt nur einen Grund, Leute wie Deniz Yücel wegzusperren: Man will sie zwingen, endlich die Klappe zu halten. Damit klar ist, dass daraus nichts wird, machen wir weiter – und erscheint dieses Buch. Und auch, um zu zeigen, dass Deniz käuflich ist. #FreeDeniz heißt jetzt #BuyDeniz. Aber nur so lange der Vorrat reicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.