Der Fall Rodney Reed: Hinrichtung vorerst gestoppt

Vor 21 Jahren wurde Rodney Reed in Texas zum Tode verurteilt. Viele zweifeln an seiner Schuld. Nun hat ein Gericht die Hinrichtung ausgesetzt.

Eine Demonstrantin hält ein Foto von Rodney Reed

Auf zahlreichen Demos wurde gefordert, Rodney Reed nicht hinzurichten Foto: ap

NEW YORK taz | Am kommenden Mittwoch hätte Rodney Reed hingerichtet werden sollen – per Injektion. Zu Tode verurteilt für ein Verbrechen, von dem der heute 51-jährige Afroamerikaner immer gesagt hat, dass er es nicht begangen hat. Schon seine Verurteilung vor 21 Jahren war umstritten. Im Countdown zu seiner Hinrichtung sind nun neue Zeugen und Beweise aufgetaucht, die ihn entlasten. Dazu kommen neue gerichtsmedizinische Testmöglichkeiten. Es gab große Demonstrationen im ganzen Land, eine millionenfach unterschriebene Petition und prominente Befürworter für Reed. Und sie hatten Erfolg. Denn am Freitag beschloss das Berufungsgericht in Texas, dass das Urteil von 1998 erst einmal nicht vollstreckt werden darf.

Mehr als 3,5 Millionen Menschen – darunter auch Dutzende texanische Abgeordnete beider Parteien und Prominente, wie Realitystar Kim Kardashian oder der Sohn von Martin Luther King, hatten Petitionen für einen neuen Prozess unterschrieben. An Dutzenden von Orten der USA fanden Demonstrationen mit dem Slogan „Free Rodney Reed“ statt. Das Oberste Gericht der USA ist eingeschaltet worden. Und am Freitag hat der Begnadigungsausschuss in Texas einstimmig an Gouverneur Greg Abbott appelliert, die Hinrichtung zu verschieben. Was nun geschehen ist. So viel Opposition gegen eine Hinrichtung ist im Bundesstaat Texas, der alle US-amerikanischen Rekorde bei der Todesstrafe bricht, nie da gewesen.

Als Reed ins Visier der Ermittler geriet, war Stacey Stites bereits ein Jahr tot. Die 19-Jährige war am 22. April 1998 in einem Wald in der Nähe von Bastrop im Zentrum von Texas gefunden worden, erdrosselt mit einem Gürtel. Als sie im Morgengrauen nicht bei ihrer Arbeit in einem Supermarkt erschien, verständigten Kollegen die Polizei. Der erste Verdacht fiel auf ihren Verlobten, mit dem sie zusammenlebte. Jimmy Fennell, der damals bei der Polizei arbeitete, nannte zwar ein Alibi, hatte dafür jedoch keine Zeugen, verstrickte sich gegenüber Ermittlern in Widersprüche, scheiterte mehrfach am Lügendetektor und verweigerte schließlich jede Aussage.

Schuldig gesprochen vom weißen Geschworenengericht

Aber im Jahr 1997 wurde Reed im Zuge von Ermittlungen zu einer anderen Straftat, wegen derer er nie verurteilt worden ist, verhaftet. Als Neben­ergebnis kam heraus, dass das Sperma im Körper der ermordeten Stites von ihm stammte. Damit wurde Reed schlagartig zum Hauptverdächtigen. Und die Ermittlungen gegen den weißen Polizisten Fennell endeten.

Im Jahr 1998 verurteilte ein komplett weißes Geschworenengericht den Schwarzen Reed zum Tode. Nach Ansicht des Gerichts hatte Reed die junge weiße Frau nachts um 3 Uhr, als sie mit dem Wagen zu ihrem 30 Meilen entfernten Arbeitsplatz fuhr, angehalten, vergewaltigt und stranguliert. Das Verbrechen schien aufgeklärt.

Aber die Darstellung von Reed, die er vor Gericht und während seiner bislang 21 Jahre im Todesstrakt von Livingston, Texas, kontinuierlich geliefert hat, ist radikal anders. Danach hatte Reed ein Verhältnis mit der jungen Frau. Weil er Schwarz und sie weiß war und weil sie im tiefen Texas lebten, hielten sie ihr Verhältnis geheim. Aber Reeds Familie und mehrere von Stites’ Kollegen wussten davon. Reed gab zu, dass er einvernehmlichen Sex mit ihr gehabt hatte. Allerdings nicht in der Nacht, als sie ermordet wurde. Denn da will er mit Verwandten unterwegs gewesen sein.

Jahre vergingen, in denen Reeds Familie, insbesondere seine Mutter Sandra und sein Bruder Rodrick, ziemlich allein versuchten, die Unschuld des zum Tode Verurteilten zu belegen. Schon beim Prozess hatte die Familie es finanziell nicht geschafft, einen privaten Verteidiger zu bezahlen. Zwei Monate vor dem Urteil bekam der Anklagte Pflichtverteidiger, die nicht genügend Zeit hatten, um sich in seinen Fall einzuarbeiten. Ihnen standen die örtliche Polizei, der Sheriff und die Justiz gegenüber. Gemeinsam stellten sie sich schützend vor ihren ehemaligen Polizeikollegen Fennell.

Neue Verteidigung, neue Hinweise

In den Folgejahren veränderten zwei Dinge die Lage von Reed: Ein Anwalt der Organisation „Innocence Project“, die sich um zu Unrecht Verurteilte kümmert, übernahm seine Verteidigung. Und Fennell wurde wegen Vergewaltigung zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte auf einer Dienstfahrt eine junge Frau gekidnappt und vergewaltigt und mit dem Tod bedroht. Bei seinem Prozess im Jahr 2008 entstand das Bild eines Mannes, den mehrere Frauen als brutal und rassistisch beschrieben.

Anwalt Bryce Benjet vom „Innocence Project“ schaffte es, die Hinrichtung seines Mandanten Reed mehrfach zu verschieben. Doch in diesem Sommer geriet der Anwalt scheinbar an das Ende seiner Möglichkeiten. Ein Richter in Bastrop legte den 20. November als Hinrichtungsdatum fest.

Zunächst erschien die Hinrichtung wie eine Routine. In Texas sind seit dem Beginn der Amtszeit von Gouverneur Abbot im Jahr 2015 bereits 48 Männer hingerichtet worden. Allein in diesem Jahr waren es schon 8. Doch dann tauchten überraschend neue Entlastungszeugen für Reed auf. Nachbarn, die in den 90er Jahren in der Wohnung unter der Verkäuferin Stites und dem Polizisten Fennell lebten, berichteten von häufigem Streit des Paares und von lauten und aggressiven Worten des Polizisten gegen die Verkäuferin.

Ein Ex-Kollege hörte den Polizisten sagen, dass er befürchte, sie ginge mit einem Schwarzen Mann fremd. Ein anderer Ex-Kollege hörte den Polizisten bei der Beerdigung seiner Verlobten knurren: „Du hast bekommen, was du verdient hast.“ Der schwerwiegendste Vorwurf kommt von einem Nazi, der zu der rechstradikalen Knast-Gang „Ariyan Brotherhood“ gehört und zeitweise eine Zelle mit Fennell geteilt hat. Fennell, der im Gefängnis den Schutz der „Aryan Brotherhood“ suchte, soll zu Gang-Mitglied Arthur Snow gesagt haben: „Ich musste meine N*****-Loving Verlobte umbringen.“

Aufseiten der Angehörigen des Opfers gehen tiefe Gräben durch die Familie. Carol Stites, die Mutter der Ermordeten, sagte 2017: „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass die Leute aufhören, Rodney Reed zu verteidigen, und ihn als den sehen, der er ist.“ Aber andere Verwandte, darunter Cousine Heather Stobbs, gehören zu jenen, die heute einen neuen Prozess für Reed verlangen. Auch mehrere Kolleginnen, die im Supermarkt mit Stites zusammengearbeitet haben, melden sich jetzt. Sie wollen von ihr gehört haben, dass sie einen Schwarzen Geliebten hatte und dass ihr Verlobter ihr Angst machte. Sie beschreiben auch, dass Stites sich versteckte, wenn Fennell im Supermarkt auftauchte, weil sie öffentlichen Streit mit ihm vermeiden wollte.

Zweifel, Demos und Petitionen

Reeds Verteidiger Benjet hat auch Unterstützung von prominenten Gerichtsmedizinern. So hat Dr. Michael Baden, der in seiner langen Karriere unter anderem an den späteren Mord­ermittlungen über John F. Kennedy und Martin Luther King mitgewirkt hat, herausgefunden, dass Stites vermutlich schon lange vor Mitternacht starb – also zu einem Zeitpunkt, als sie noch in der gemeinsamen Wohnung mit ihrem Verlobten war. Sollte das stimmen, wäre ihr Verlobter der Hauptverdächtige und zugleich jener, der ihre Leiche in den Wald gebracht haben könnte. Außerdem verlangt der Verteidiger, dass die Mordwaffe untersucht wird. Der Gürtel befindet sich in den Händen der Justiz. Die Fingerabdrücke darauf sind vermutlich die des Mörders. Der Gürtel ist nie per DNA-Test untersucht worden.

Fennell ist seit vergangenem Jahr wieder auf freiem Fuß und soll heute als Pastor in Texas arbeiten. In der vergangenen Wochen machte sich sein Anwalt Robert Philipps lustig über die „Fantasie“ des Reed-Verteidigers und über Zeugen „die sich in der allerletzten Stunde plötzlich erinnern“.

Rodrick Reed hat sich in den zurückliegenden Jahren Dutzende Male am Ende von Besuchen im Todestrakt von Livingston mit einem Händedruck auf die Glasscheibe von seinem Bruder auf der anderen Seite verabschiedet. „Es ist hart zu gehen, wenn man weiß, dass der andere unschuldig ist“, sagt er in Interviews. Aber er fügt jedes Mal einen optimistischen Satz hinzu: „Ich glaube, dass mein Bruder bald wieder bei uns ist.“ Als er und seine Mutter erfuhren, dass die Todesstrafe vorerst gestoppt wurde, jubelten sie. „Ich bin so glücklich. Ich bin eine sehr glückliche Mutter“, sagte Sandra Reed gegenüber dem Fernsehsender CBS Austin am Sonntag.

Die Demonstrationen und Petitionen quer durch die USA haben also tatsächlich etwas in Bewegung gebracht. Nie zuvor haben sich 50 Prozent der Mitglieder des texanischen Senats für die Verschiebung einer Todesstrafe ausgesprochen. Unter jenen, die für einen neuen Prozess für Reed plädieren, sind auch zahlreiche prinzipielle Befürworter der Todesstrafe, die nicht an Reeds Schuld glauben. Reeds Anwalt Benjet zeigt sich jetzt „extrem erleichtert und dankbar“ über die jüngste Entscheidung des Berufungsgerichts. Denn nun gebe es eine Chance für eine gründliche Prüfung, um zu beweisen, dass Rodney Reed unschuldig ist.

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