Der Fortsetzungsroman: Kapitel 33: Knopsi und Krümel

Der Krieg ist vorbei, die Kinder kommen - und sie haben unvergessliche Namen.

Das glückliche Paar 1949 mit Kind. Bild: Archiv Streisand

Mütterchen war schwanger. Zwei Jahre nach Kriegsende. Nach zwei Abtreibungen. Die erste war in Frankfurt am Main Anfang der dreißiger Jahre. Jupp hat sie selber durchgeführt, der jüdische Arzt, ihr wisst schon, ihre erste große Liebe. „Hackescher Markt mit Erich“, steht in meinen Aufzeichnungen. Hä? Gibt es einen Hackeschen Markt in Frankfurt?

Die zweite Abtreibung hatte sie während ihres Engagements in Plauen nur wenige Jahre später. „Wieder bei Erich gelegen“, steht da. Erich Goldmeier, ihr bester Freund. War der in Berlin damals?

„Der hat mir dann eine Hülle besorgt“, sagt Mütterchen. – „Eine was?“ Der Stift schmiert, als ich ihn absetze. Ich schaue vom Papier hoch. „Eine Hülle“, sagt Mütterchen, „ein Pessar.“ Ich gucke sie an. Sie erklärt. Nicht vergessen, ich bin 16 damals. Ich brauche eine Weile, um mich von der Vorstellung zu erholen, dass meine Großmutter sich ein Kondom über die Gebärmutter gestülpt hat. „(Verhütungsmittel)“, schreibe ich auf meinen Notizblock. War Erich Frauenarzt, frage ich mich. Google weiß Antwort. Psychologe war er, Seelenklempner. „Der hat Bekloppte behandelt“, hätte Mütterchen gesagt und ich hätte gesagt: „Oma, so was sagt man nich.“

1947 war Mütterchen schwanger mit Knopsi, meiner Tante Beate. Sie haben ein Faible für Spitznamen in meiner Familie. Der Name Knopsi kam so zustande:

Die Familie wohnte damals noch in Charlottenburg. Hati hatte das Geschäft in den vorderen Räumen der Wohnung wieder eröffnet und pflegte neue und alte Beziehungen zu Stars und Sternchen der deutschen und internationalen Literaturszene. Als nun meine Tante Beate am 10. März 1948 im Krankenhaus am Zoologischen Garten das Licht der Welt erblickte, da hagelte es Glückwunschbriefe auf den frisch gebackenen Großvater. Einer war aus der Feder einer mittelmäßigen, aber erfolgreichen Kitschromanschriftstellerin, die sich zu den Versen hinreißen ließ:

„Eine neue Knospe ist am Baume der Streisands erblüht, der doch so viele Blätter lassen musste.“ Oder so ähnlich. Jedenfalls hatte Knopsi ihren Spitznamen weg.

Knopsis Schwester, meine Tante Erna, wurde dreieinhalb Jahre später geboren. Da wohnte Familie Streisand-Heiden schon in Karlshorst. Aus politischen Gründen.

„Sandy war von Anfang an inna SED“, sagt Mütterchen. „Den Jenossen jefiel ditt nich, dett wir im Westen wohnten, deshalb mussten wir umziehen.“ Sie wäre gerne in Charlottenburg geblieben. Es gibt einen Brief, der belegt, dass sie selber zum Oberparteimotz gestiefelt ist, um die Genossen zu überzeugen, dass es für sie als Künstlerin viel praktischer wäre, am Zoo wohnen zu bleiben. Ich kann mir die Gesichter der Genossen bildhaft vorstellen, während sie sich Mütterchens Vortrag anhörten. Das wird einen Aufstand für Sandy gegeben haben!

„Außerdem hatte Hati irgendwelche geschäftliche Verbindungen zu Jugoslawen, die der Partei nicht recht waren“, sagt Mütterchen.

Im Mai 1950 zog die Kleinfamilie nach Karlshorst. Genau fünf Jahre, nachdem dort die Kapitulationsurkunde unterzeichnet worden war. Darauf ist Tante Beate heute noch stolz. Damals räumten die Angehörigen der Roten Armee die Hälfte der Villen im „Dahlem des Ostens“ wieder. Wenn ich Angehörige sage, meine ich tatsächlich Familien. Die beiden Schwestern haben immer erzählt, wie sie auf der Treskowallee manchmal von Weitem die kleinen Mädchen mit den großen Schleifen im Haar gesehen haben.

„Sandy hat von den Russen drei Adressen in Karlshorst gekriegt, wo wir uns Wohnungen angucken sollten“, sagt Mütterchen. Und wie die beiden die Straße entlangliefen, guckte gerade der Hauswirt Herr Rex aus dem Fenster. Er sah die beiden und rief ihnen zu: „Suchen Sie ’ne Wohnung? Im dritten Stock hätt ick noch watt frei.“

Der Umzug war im Herbst. Ein Jahr später wurde Tante Erna geboren. „Is dittn kleena Krümel“, sagte Knopsi, als man ihr das das neue Schwesterchen zum ersten Mal zeigte, „Mit dem soll ick spielen?“

Und da standen sie dann, die Schwestern, mit ihren Spitznamen, gute fünfzehn Jahre später auf der Straße, durch die ihre Eltern gelaufen waren, und flirteten mit irgendwelchen Halbstarken aus der Nachbarschaft. Und genau wie damals ging plötzlich ein Fenster auf, aber statt des Hauswarts blickte Mütterchen auf die Straße und rief im schönsten Schauspielerinnen-Alt: „Krüüümel, Knopsiiii, raufkommen, essen!“

Den Tonfall hatte sie noch Jahrzehnte später drauf, als ansonsten nicht mehr viel von ihr übrig war und sie als halbes Gespenst an Geist und Körper jede Nacht über die Gänge des St.-Elisabeth-Pflegeheims polterte und die Pflegerinnen wachhielt. „Krüüüüüümel!“, rief sie, bis jeder Bewohner, der noch einen Rest Gehör hatte, aus dem Bett gefallen war, „Knoooopsiiiiii! Wo seid ihr denn?! Ihr müsst mir ma helfen!“

Ach, Omi.

Der Psychologe Dr. Erich Goldmeier hat ein paar Jahre vor seinem Tod 1989 noch ein Buch geschrieben. Es heißt „The Memory Trace“, die Gedächtnisspur.

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