Der Fortsetzungsroman: Kapitel 22: Der lange Marsch nach Berlin

Irrungen und Wirrungen: Am Ende steht Mütterchen glücklich und erschöpft vor der Wohnung mit dem Klingelschild "Streisand" in der Eislebener Straße.

Es war ein harter Kampf durch das tief verschneite Berliner Umland Anfang 1945. Bild: dpa

Vier Hemden zog Mütterchen übereinander und fünf Hosen, denn „was man am Leib trägt, trägt man nicht“, hat sie gesagt, und oben drüber noch den Pelzmantel. Den hatte sie sich zu Kriegsbeginn erschlichen. Erspielt, muss man sagen.

Was für ein Glück! Zu Beginn des Krieges gab es nämlich noch Entschädigungen für Bombenopfer. Hilfsarmee, Rotes Kreuz, irgendwie so was. Da ging Mütterchen hin, zusammen mit einer Freundin vom Theater, und gemeinsam spielten sie den Beamten dort die Seifenoper der ausgebombten Witwen vor. Wozu waren sie schließlich Schauspielerinnen.

„Mein ganzes Porzellan!“, jammerte die Freundin (nennen wir sie Ilse, spaßeshalber). „Meine ganze Aussteuer!“, jammerte sie, „Es ist eine Katastrophe!“ Mütterchen stützt ihre Freundin. Sie ist voll des Mitgefühls. „Arme Ilse“, sagt sie und tätschelt ihr den Arm, „wissen Sie, Herr Wachtmeister...“, wendet sie sich an den zuständigen Beamten. „Gefreiter“, korrigiert er zaghaft. Mütterchen lächelt: „Ilse hat sich erst letzte Woche verlobt“, sagt sie und sieht dem Gefreiten tief in die Augen. Ilse schluchzt leise: „Werner!“ – „Zwei Tage später ist Ilses Werner eingezogen worden“, erklärt Mütterchen unter dem bitteren Weinen ihrer Freundin, „und der Pelzmantel, den er ihr zum Abschied geschenkt hat, ist auch hin.“ Ilse weint markerschütternd. Sie war schon immer gut in den dramatischen Rollen. Der Beamte sieht ganz mitgenommen aus.

So ungefähr.

Mein Großvater erzählt in einem Brief aus Goldberg an seine Eltern von dem Mantel. Montag, der 30.10.44, nach seiner Umsetzung vom Labor auf den Sandplatz. Ein merkwürdig fröhlicher Brief, in dem er erzählt, dass Mütterchen ihn am Freitag besuchen kommt:

„Ich stelle es mir herrlich vor, wenn sie im elegantesten schwarzen Pelzmantel ihres Inventars am Schuttabladeplatz auftaucht und die Herren Schütter (parallel zu Schipper) dann unterhält.“

Schauspieler mussten ihre Kostüme damals noch selbst mitbringen. Im Tarifvertrag des „Deutschen Bühnenvereins“ von 1908 heißt es: „§ 10 Kostüme: 1. Das Mitglied hat die seinem Geschlecht entsprechende moderne Kleidung auf eigene Kosten zu stellen, ebenso alle Hand- und Fußbekleidungen, Trikots und Leibwäsche, insofern hier nicht außergewöhnliche Anforderungen betreffs gleichartiger Kostümierung gestellt werden.“ Historische Trachten musste das Theater zur Verfügung stellen.

Mütterchen war am Stadttheater in Guben angestellt. Vielleicht haben Ilse und Mütterchen dem Beamten auch einfach erzählt, dass ihr Fundus verbrannt sei. „Wir können so nicht arbeiten!“ Das wäre zwar immer noch gelogen, aber näher an der Wahrheit.

Auf der Flucht von Guben nach Berlin hat der Mantel meiner Großmutter jedenfalls gute Dienste geleistet.

„In eisigen Schneestürmen verteidigen deutsche Grenadiere ihre Brückenköpfe“, bellt der Sprecher der Wochenschau vom 17.2.45 mit rollendem R, während Böen von weißem Pulver durchs Bild wehen und Männer, die bis zur Hüfte im Schnee stehen, über schwarze Augenringe hinweg ins Leere starren. Sie haben sich Tücher um den Kopf gebunden gegen die Kälte.

Mütterchen hat erzählt, dass sie auf der Flucht die ganze Zeit neben dem Pferdewagen her gelaufen ist. Der sollte Papiere ins Potsdamer Militärarchiv bringen. 150 Kilometer bis Berlin. Im Spreewald haben sie Pause gemacht, da konnte Mütterchen nicht mehr. Sie hat geheult vor Erschöpfung, sagt sie.

Meine Tante sagt, Mütterchen hätte erzählt, sie sei übers Haff gelaufen, übers zugefrorene Stettiner Haff. „Sie hat immer gesagt, so gefroren hat sie in ihrem ganzen Leben nie wieder.“ Ergibt das einen Sinn? Wieso soll sie denn an Berlin vorbei bis ganz nach Norden gelaufen sein?

In meinen Aufzeichnungen steht drin, sie sei mit dem Transport bis S-Bahnhof Rangsdorf mit. Das kommt mir logischer vor. Dort haben die Soldaten das Fahrrad, das Federbett und den Koffer vom Wagen gehoben. Mütterchen hat alle ihre Habseligkeiten auf dem Fahrrad montiert. Dann ist sie mit dem Fahrrad mit der S-Bahn bis Friedrichstraße gefahren. Dort war sie zu erschöpft, um die Sachen einzeln die Treppen hochzutragen. Außerdem hätte sie dann ihr ganzes Zeug allein stehen lassen müssen. Wenn auch nur kurz. Mir ist selbst heute komisch, wenn ich meine Sachen irgendwo stehen lassen muss. Und damals, Februar 45, das waren verzweifelte Zeiten. Was sollte Mütterchen machen? Fahrstühle gab’s nicht. Oder sie funktionierten nicht. Aber die Rolltreppe funktionierte.

Sie hat ein Chaos verursacht. Der Koffer fiel vom Gepäckträger. Das Bett verfing sich fast in den Handgriffen. Viele Freunde wird sie sich gemacht haben mit der Aktion.

Über die Rolltreppen am S-Bahnhof Friedrichstraße hat Mütterchen sich ihr ganzes Leben lang aufgeregt. „Eene von beeden is immer kaputt!“, hat sie geschimpft.

Trotzdem ist sie irgendwie in die S-Bahn Richtung Wannsee rein gekommen und am Zoo wieder raus und dann stand sie tatsächlich vor der Wohnung mit dem Namensschild „Streisand“ in der Eislebener Str. 4. Und klingelte. Und Mumi öffnete. Sah sie an. Schlug die Hände überm Kopf zusammen und nahm die Schwiegertochter in ihre Arme.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.