Der Fortsetzungsroman: Kapitel 31: Brot und Spielen

Die "Russen" kümmerten sich nach dem Krieg um vieles. Auch darum, dass Mütterchen beim Deutschen Theater landete.

Mütterchen 1962 bei einer Probe im DT. Bild: Archiv Streisand

Noch eine Buttergeschichte:

Nach dem Krieg hat Hati Bücher gegen Scheine verkauft. Lebensmittelmarken. 1946 muss es gewesen sein, da wohnten Mütterchen und Sandy noch in Charlottenburg. Die Wohnung war ja groß genug. Der vordere Teil waren Hatis Geschäftsräume, da saßen seine Angestellten. Hinten war der Wohnbereich.

Einmal sollte Mütterchen für ihren Schwiegervater zwei Kilo Butter abholen bei den Russen am Ostbahnhof. Hat sie gesagt.

Auf dem Rückweg fuhr sie mit der S-Bahn bis Potsdamer Platz und von da mit der U-Bahn. „Und da hab ick mir ’ne Zigarette anjezündet, und plötzlich wurde mir janz blümerant“, sagt Mütterchen. „Wo hast du dir ’ne Zigarette angezündet?“, frage ich. „Na inna Bahn“, sagt Mütterchen. Damals war das noch nicht verboten. Jedenfalls wurde ihr schlecht. Deswegen stieg sie am Gleisdreieck aus. Und setzte sich auf eine Bank. Und zündete sich noch eine an. Raucherlogik. „Und denn wachte ick total bekotzt am Boden liegend auf, und mein erster Jedanke war: Um Jottes willen, die Butter!“ Zum Glück war die noch da.

Ich erinnere mich an eine der letzten Familienfeiern mit Mütterchen. Sie war 91, irgendwer hatte Geburtstag. Das übliche Theater, die übliche Besetzung. Alle waren da, alle redeten durcheinander. Mein Cousin Matti erzählte von Flugzeugkatastrophen, sein Bruder zeigte Urlaubsfotos rum, seine Tante regte sich über die Deutsche Bahn auf, und deren Schwester rief in unregelmäßigen Abständen dazwischen: „Kinder, jetzt TUT mir den Jefallen und esst noch ’n bisschen!“

Seit einer halben Stunde will ich meine neueste Callcentergeschichte erzählen. Aber irgendwie komme ich heute nicht dran. „Neulich is mir watt passiert“, sage ich. „Jetz warte doch mal, ick war noch gar nich fertich“, sagt Tante Erna.

Zehn Minuten später: „Was ich sagen wollte …“ – „Jetz quatsch nich immer dazwischen!“ Familie. Schrecklich. Normal eben.

Ich lehne mich beleidigt zurück und greife nach der Zigarettenschachtel. Damals haben wir noch geraucht, Tante Erna und ich. Das war schön. „Raucht ma, Kinderchen“, rief Tante Erna Jahre später, als sie selbst aus gesundheitlichen Gründen hatte aufhören müssen und Paul und ich noch druff waren. „Raucht ma, Kinderchen!“, rief sie, wenn wir nach dem Essen auf den Balkon schlichen, um ihr den Entzug nicht so schwer zu machen, „Raucht so viel und so lange, wie ihr könnt!“, rief Tante Erna, „Ditt is ja so watt Schönes!“

Ich greife also nach der Schachtel, nehme mir eine Zigarette und stecke sie zwischen die Lippen. Wenn ich schon nicht reden darf …

Mütterchen sitzt neben mir. Sie hat das zweite Stück Kuchen vor einer Weile gegessen und trinkt gerade das zweite Glas Wein. Zufrieden hat sie die Hände auf der kleinen Kugel ihres Bauchs verschränkt und blickt in die Runde. Dann guckt sie mir beim Anzünden der Zigarette zu, beugt sich zu mir rüber und sagt: „Krümel, wo haste denn die Zigaretten her?“

Ich bin es gewohnt, mit dem Spitznamen meiner Tante angesprochen zu werden – zum Schluss reagierte jeder von uns auf die Namen sämtlicher Familienmitglieder – die Frage nach den Zigaretten wundert mich aber doch.

Ich zeige auf die Schachtel vor mir: „Ditt sind meine“, sage ich, „die liegen hier.“ – „Aha“, sagt Mütterchen, „denn nehm ick mir ma eene.“ Ich dachte erst, ich hätte mich verhört, aber Mütterchen griff schon nach der Schachtel und zog eine Zigarette heraus. „Haste ma Feuer?“, fragte sie. Ich war viel zu perplex, um wirklich was zu erwidern, aber sicherheitshalber fragte ich doch noch mal nach: „Omi, du rauchst wieder?!“ Und als wäre dies wirklich die dämlichste aller Fragen, antwortete meine Großmutter, die Zigarette im Mundwinkel: „Wieso, ick hab doch immer jeroocht“. Ich gönne Mütterchen alles, und ich traue ihr auch alles zu. Daher wollte ich ihr gerade die Zigarette anstecken, als meine Tante Beate herüberschaute und entsetzt ausrief: „Watt macht IHR denn da?!“ – „Mütterchen will eine rauchen“, sage ich. „Kinder, nun habt euch doch nicht so“, sagt Mütterchen, „zu Hause hab ick immer Zigaretten.“

Ich gucke meine Tante an. Sie ist Lehrerin. Sie hat nie geraucht. Und auch diesmal ist sie wieder die Vernünftigste von allen. „Mutti“, sagt sie streng, „du hast doch vor dreißig Jahren aufgehört!“ Mütterchen blickt ihre Tochter prüfend an, dann wandert ihr Blick langsam zu mir, dann zu der Zigarette in ihrer Hand, und plötzlich geht ein Leuchten über ihr Gesicht. „Ach ja, richtig“, sagt sie und kichert, „hatt ick vajessen.“

Was ich eigentlich erzählen wollte: Die Russen hatten nicht nur Butter. Die hatten auch Beziehungen. „Haben Sie nicht irgendwo eine Stelle frei für ’ne arbeitslose Schauspielerin?“, fragte Hati die Russen, „Meine Schwiegertochter ist Schauspielerin und zur Zeit ohne Engagement.“ – „Die Russen sagten zu Hati, ick solle mich bei deren Oberkulturmotz melden“, sagt Mütterchen. „Und der schickte mich zu Gustav von Wangenheim“, dem Intendanten des DT, das damals Staatstheater war, weil das eigentliche Staatstheater ausgebombt war. „Wangenheim ließ mich kurz vorsprechen und sagte dann: ’Wir haben eigentlich genug Schauspieler am Haus. Aber ich suche händeringend eine gute Regieassistentin. Würden Sie sich so was zutrauen?‘ Und wie ick mich ditt traute“, sagt Mütterchen. So kam sie ans Deutsche Theater.

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