Der Hausbesuch: Der Herde so nah
Seit der Kindheit zeichnet Reiner Zieger Tiere. Über die Jahre verfeinerte er sein Handwerk. Und einmal, da reiste er aus der DDR in die Serengeti.

Menschen sind glücklich, wenn sie das zum Beruf machen können, was sie lieben. Bei Reiner Zieger wurde eine Leidenschaft aus der Kindheit zum Lebensinhalt.
Draußen: In Willmersdorf, kurz hinter der nordöstlichen Berliner Stadtgrenze, fühlt sich Brandenburg ganz ländlich an. Gleich beim ehemaligen Gasthof Märkischer Hof steht das Haus von Reiner Zieger, das einst ein Bauernhof war. Vor dem Gründerzeitbau blüht eine rosa Magnolie, hinten im Innenhof mit großer Scheune sitzt ein Turmfalke auf dem Dach. Reiner Zieger zeigt bei der Begrüßung auf ihn. Der Vogel nistet dort dank Unterstützung des Hausherrn. Zieger hat die Krähen aus dem Schlupfloch unterm Scheunendach verscheucht. Nun legt dort wieder ein ihm schon bekanntes Falkenpaar seine Eier.
Drinnen: Auf knarrenden Dielen führt Reiner Zieger direkt in seine kleine Büro-Werkstatt im Erdgeschoss. Bücher, Pinsel, Farben, Tierbilder, Zeichnungen, Landkarten, Geweihe sind im Zimmer und an den Wänden verteilt. Zieger weist auf eine Radierung mit Hirsch. Die ist von Friedrich Wilhelm Karl Kuhnert, einem deutschen Maler, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Tierbilder spezialisiert hatte und vor allem Geschöpfe der afrikanischen Wildnis malte. „Mit frappierender Lebendigkeit. Der Kuhnert hat die Leute damals umgehauen mit seinen wahrhaftigen Bildern“, sagt Zieger. Kuhnert ist offensichtlich sein Idol in einem inzwischen wenig gewürdigten Genre. „Tiermaler, das wird heute irgendwie belächelt. Klingt nach röhrendem Hirsch. Ist mir aber wurscht.“
Zoo und Zirkus: Schon als kleines Kind bei den Großeltern hat Zieger mit den Kühen gekuschelt und Elefanten gezeichnet. Er hatte die Tiere zuvor im Leipziger Zoo gesehen. „Da gibt es von mir eine Zeichnung. Die hatte meine Mutter meinem Vater in den Krieg geschickt.“ Geboren wurde Zieger 1939 in Wurzen, etwa 30 Kilometer von Leipzig entfernt. „Mit elf Jahren habe ich mir dann in den Sommerferien eine Wochenkarte gekauft und bin nach Leipzig in den Zoo gefahren. Dort habe ich Tiere gezeichnet.“ Selbst dem damaligen Zoodirektor fiel der Junge auf. Er klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Mein Vater war Gebrauchsgrafiker, er hat Filmplakate fürs Kino gemalt und mich, so oft es ging, in sein Atelier mitgenommen. Mit elf war ich auch zum ersten Mal im Zirkus“, erzählt Zieger. „Die Pferde und Elefanten haben mir so imponiert, dass ich danach immer wieder hingegangen bin, um sie zu zeichnen.“
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Anatomie: Anfangs malte Zieger die Füße der Elefanten als Stampfer. „Ich hatte keine Ahnung, wie das mit dem Knochengerüst darunter aussieht. Damit man das Tier richtig zeichnen kann, muss man es wissen.“ Er hat es später gelernt. „Ich wollte natürlich was mit Tieren nach meiner Schulausbildung machen.“ Biologie studieren, „das war nicht drin“, denn sein Vater war selbstständig und hatte somit „keine saubere sozialistische Vergangenheit“. Doch Ziegers Tierzeichnungen überzeugten die Prüfer an der Fachhochschule für angewandte Kunst in Berlin. Sie nahmen ihn im Fachbereich Wissenschaftliche Grafik auf. „In dieser Schule war ein ganzer Flur mit wissenschaftlichen Darstellungen.“ Es war genau das, was er machen wollte: Anatomie. „In der Charité mussten wir Präparate oder Schädelteile zeichnen, mit wissenschaftlicher Unterstützung. In der Veterinärmedizin war eine große Sammlung vom Elefanten- bis zum Affenskelett.“
Jobsuche: Drei Jahre studierte Zieger, machte dabei auch ein Praktikum im Tierpark Berlin-Friedrichsfeld. Der damalige Direktor Heinrich Dathe wurde auf ihn aufmerksam und holte ihn 1961 als wissenschaftlichen Zeichner an die von ihm geleitete Forschungsstelle der Deutschen Akademie der Wissenschaften im Tierpark. Dort arbeitete Zieger zusammen mit einem Parasitologen, einem Anatom und einem Verhaltensforscher. „Das hat sich für mich glücklich gefügt und ich habe dadurch meine Studien der Anatomie vertiefen können.“
Freischaffend sein: Nach ein paar Jahren wurde dem kreativen Zieger das akkurate, wissenschaftliche Abzeichnen zu langweilig. Er machte sich selbstständig, entwarf Plakate, Wegweiser, Schautafeln und Briefmarken für den Tierpark und illustrierte allein für DDR-Verlage fünfzig Bücher. Freischaffender Zeichner bleibt Reiner Zieger sein Leben lang. Sein letzter großer Bildband „Endlos ziehende Herden“ über die großen Tierwanderungen in Ostafrika ist erst dieses Jahr erschienen.
Hindernis: Dem System der DDR stand er kritisch-distanziert gegenüber. „Die DDR war nicht mein Staat, weil er mich schrecklich behindert hat. Ich konnte nicht reisen. Ich war neun Jahre im Tierpark angestellt. Und da war ich noch nicht einmal im Gewerkschaftsbund.“ Warum viele seiner Nachbarn heute alles schlecht finden und AfD wählen, kann er nicht verstehen: „Es geht ihnen gut. Haus, Auto, Urlaub, aber sie sind unzufrieden.“ Ob die DDR ein Hindernis für seine eigene berufliche Entwicklung war? „Da bin ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher, ob mein Start woanders so gelungen wäre. Ich weiß nicht, ob ich von meiner Arbeit hätte leben können in der Bundesrepublik.“
Produktionsbedingungen: In der DDR habe jedes Buch, das dort verlegt werden sollte, auch dort entstehen müssen, erzählt Zieger. Im Westen war das anders: Wenn es in Japan ein schönes Kinderbuch gab, kaufte Deutschland die Lizenz. Dann wurde es übersetzt, neue Illustrationen waren nicht nötig. Im Osten brauchte es dafür umso mehr Illustratoren und Illustratorinnen, doch als die Mauer fiel, standen sie plötzlich blank da. Andererseits hätte Zieger im Westen wohl Biologie studieren können. „Hängengeblieben wäre ich aber nicht in irgendeinem Labor“, sagt er. „Ich wäre in die Serengeti gegangen.“

Die Chance: In den späten 70er Jahren bekam Zieger die Chance, ein bisschen was von der Welt zu sehen. „Da hörte ich, dass man eine Reise in den Westen machen durfte, wenn man einen bestimmten Grund hätte und keine Devisen beanspruchen muss.“ Daraufhin ging er zur Kulturbehörde und sagte: „Ich will nach Afrika!“ Sein bester Freund im Westen, ein Präparator für Großwildjäger, verschaffte ihm die notwendige Einladung durch die Zoologische Gesellschaft Frankfurt. Zieger kam so ins Umfeld von Bernhard Grzimek, dem einflussreichen Naturschützer, Pionier der Ökologiebewegung und Gastgeber der Sendung „Ein Platz für Tiere“. Ein Biologen-Ehepaar, das für Grizmek vor Ort in der Serengeti arbeitete, nahm Zieger in seine Obhut. „Denen haben die wahrscheinlich gesagt, pass mal auf, hier kommt ein kaputter, verrückter Maler aus Ostberlin.“
Serengeti: Zwei Jahre dauerte es, bis die DDR-Behörden ihm erlaubten, die Reise anzutreten. Zieger flog daraufhin mit der Cessna in die Serengeti und über den Kongo. „Ich hatte kein Geld, ich konnte mir dort keinen Jeep mieten. Immer, wenn Leute vorbeikamen, nahmen sie mich mit.“ Das, was er vom Kontinent kennenlernte, habe ihn „umgehauen“. Zieger lief viel zu Fuß – und er zeichnete: „Krokodile, ganz nah. Diese Herden von Zebras, Elefanten, Nashörnern, die völlig unabhängig vom Menschen umherzogen. Das war mir beinahe unheimlich.“
Gemeinsam: Seine Frau Karin lernte Zieger als Student beim FKK auf Rügen kennen. Sie sind jetzt 64 Jahre verheiratet und haben zwei Töchter. Sie arbeitete lange als Ärztin in Berlin, war dann Dozentin für Logopäden. Während Ziegers erstem Aufenthalt in der Serengeti schrieb er einen Bericht für seine Frau, um sie auf künftige gemeinsame Reisen auf den Kontinent einzustimmen. Und so sollte es dann auch kommen: Die nächsten Safaris bestritten sie gemeinsam.
Nachholen: Nachdem die Mauer gefallen war, flog Zieger noch acht Mal nach Afrika – unter anderem nach Tansania, Kenia, Südafrika, Namibia. Außerdem zeichnete er Bisons und Schneeziegen in Kanada, suchte den Tiger in Indonesien. „Ich habe alles in die Reisen gesteckt und nachgeholt, was ich vorher nicht konnte.“
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