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Der HausbesuchLeben, überleben, weiterleben

Sie heilte nicht nur Krankheiten, sondern auch die Schrecken der Geschichte. Zu Besuch bei Annemarie Gerson in Wuppertal.

Annemarie Gerson hat „wahnsinnig viel gearbeitet, aber auch viel auf den Weg gebracht“ Foto: Andreas Teichmann

Sie ist ein Sonntagskind. Daran hält sich Annemarie Gerson aus Wuppertal seit neun Jahrzehnten fest.

Draußen: In dieser Stadt, die aus vielen Orten zusammengewürfelt ist, liegt im Tal die Wupper. Von da aus steigen die Ufer wild an. Im Stadtteil Unterbarmen aber sind es die Bahngleise, auf die man von oben herabschauen kann. Ansonsten ist es ruhig in der Seitenstraße, in der Annemarie Gerson in einer Senioreneinrichtung lebt.

Drinnen: Einst hatte Annemarie Gerson eine Wohnung mit Arztpraxis auf 240 Quadratmetern, am Bahnhof im Stadtteil Elberfeld. Nachdem der Eigentümer sie herausklagt hatte – das Haus sollte in Eigentumswohnungen umgewandelt werden –, ging sie nach 44 Jahren, in denen sie als Ärztin gearbeitet hatte, in Rente und zog in eine Wohnung, die nur noch ein Drittel so groß war. Die Wohnung im Seniorenwohnheim, es ist ihre letzte Station, hat nur noch 42 Quadratmeter. Deshalb drängen sich die Möbel, die den Touch des letzten Jahrhunderts haben, stapeln sich die Erinnerungstücke. Sofa, Sessel, Regale. Handpuppen, Bücher, Engelsfiguren. Auf dem Klavier hat Gerson Fotos ihrer großen Familie aufgestellt. In einer anderen Ecke gezeichnete Porträts ihrer Eltern, ihrer älteren Schwester und ihrer Zwillingsschwester. Um diese kreisen ihre Gedanken.

Auf 42 Quadratmetern wohnt sie im Seniorenwohnheim Foto: Andreas Teichmann

Religion: Gersons Mutter war Christin, ihr Vater Sohn eines Rabbiners, der nach dem Ersten Weltkrieg zum Christentum konvertierte. „Er saß 18-jährig im Schützengraben, sie wurden beschossen. Da zog ein Kamerad die Bibel aus dem Tornister und las daraus vor. Mein Vater sagte: ‚Wenn ich das überlebe, werde ich Christ.‘“ Was sie aus der Verschmelzung der beiden Religionen in ihrer Familie mitgenommen hat, ist die Freiheit, im Glauben vor allem das Fließende zu sehen. Deshalb ist sie heute Christin und Quäkerin und Anthroposophin in einem.

Philosophie: Auch das Leben fließt. „Und es geht weiter nach dem Tod“, sagt Gerson. Sie weiß es genau. Sie öffnet die Arme beim Sprechen, denn so wie sie Menschen begrüßt, begrüßt sie das Unvermeidliche. „Der Todestag ist der Himmelsgeburtstag“, sagt sie. Mit dieser Überzeugung hat sie versucht, ihrer 93 Jahre alten Schwester das Sterben zu erleichtern, nachdem sie sie, selbst schon hochbetagt, über fünf Jahre in ihrer winzigen Wohnung betreut hatte. Das Pflegebett passte gerade noch ins enge Wohnzimmer.

Sie dachte, weil sie so klein sei, brauche sie einen Doktortitel

Nur ein schmaler Gang zum Balkon blieb frei. Aber die Schwester habe das mit der Unendlichkeit des Lebens nicht sehen wollen, „sie konnte so lange nicht gehen“. Jahre zuvor hat Gerson auch ihre Zwillingsschwester bis zum Tod gepflegt. „Ich bin ein Zwilling im Sternzeichen Zwilling.“ 1935 kamen sie und ihre Schwester im Mai in Berlin zur Welt. Da arbeiteten die Nazis schon an der Vernichtung der Juden. „Aber ich bin ein Sonntagskind“, sagt Annemarie Gerson. Es hört sich wie eine Glücksgarantie an. „Ich bin glücksbegabt.“ Den Satz wiederholt sie gerne.

Geschichte: Dabei ist Glück relativ. Drei der Geschwister ihres Vaters wurden mit ihren Familien in Auschwitz ermordet. Einer hatte die Hachschara in Neuendorf im Sande bei Berlin geleitet, wo junge Juden und Jüdinnen auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Die Nazis machten daraus dann ein Zwangsarbeitslager. „Auch mein Vater musste Zwangsarbeit leisten. Klos putzen, Bomben entschärfen.“ Arbeit schände nicht, soll er immer gesagt haben. Zwei der Geschwister des Vaters schafften es noch rechtzeitig nach Kanada und Israel. „Sie wollten nicht gehen. Sie waren Deutsche. Sie liebten die Sprache, die Kultur.“ Gerson redet schnell; sie hat so viel zu erzählen, weil es doch nicht um sie gehen soll, sondern um die anderen. Die gilt es zu würdigen.

Rosenstraße: Ihre christliche Mutter wurde drangsaliert, ihren aus Sicht der Nazis jüdischen Mann zu verlassen. Sie hat sich geweigert. Der Vater hat überlebt, weil die nichtjüdischen Ehefrauen – darunter Gersons Mutter – in der Berliner Rosenstraße protestierten, wo die Männer in einem Sammellager interniert waren, bevor sie deportiert werden sollten. „Gebt unsere Männer frei“, skandierten sie trotz Einschüchterung der Gestapo. Die Nazis lenkten ein.

Schrecken: Sie selbst habe nicht so viel Schlimmes mitbekommen, sagt Gerson. Natürlich, an die vielen Toten auf den Straßen erinnert sie sich. Und an das Erdloch, das ihr Vater grub und über dem eine Stahlplatte lag. Bei Bombenalarm saßen sie darin. Ihr angeblich jüdischer Vater durfte nicht in die Luftschutzbunker. Auch sie und ihre Schwestern, die von den Nazis zu „Mischlingen ersten Grades“ erklärt wurden, durften mitunter nicht in die Schutzräume. „Macht den Mund auf, damit das Trommelfell nicht platzt“, ermahnte der Vater die Kinder immer, wenn sie im Erdloch saßen. „Wenn wir nach der Entwarnung aus dem Loch krochen, sammelte ich Metallsplitter auf. Damit konnte ich ein paar Pfennige verdienen.“

Angst: Annemarie Gerson ließ den Schrecken nicht so an sich herankommen. Ihre ältere Schwester schon. „Sie hatte ihr Leben lang Angst. Sie hat schon mehr verstanden als ich. Ich konnte kaum lesen, da kam ich mit ihr an einer Litfaßsäule vorbei, auf der ein Plakat hing, wo Juden schlechtgemacht wurden. ‚Nein, wir sind keine schlechten Menschen‘, habe ich geschrien. ‚Wir sind Juden und sehr gute Menschen.‘ Die Schwester hat mich angebrüllt. ‚Sei still!‘“

Musik: In der Familie wurde der Schrecken mit Schönem in Schach gehalten. Es wurde musiziert, Gerson lernte Querflöte, Geige und Cello. Tanzunterricht hatte sie auch, sogar bei der berühmten Tänzerin Gret Palucca. Und es wurde gesungen. Annemarie Gerson jedenfalls wäre in ihren Träumen gerne Tänzerin und Musikerin geworden. Die Geschichte trug ihr anderes auf: Sie sollte das Unheil heilen, den Verlust der Menschen, die Zerstörung, das chronische Erbleiden ihrer Zwillingsschwester, die Angst ihrer älteren Schwester. Denn wie konnte man sonst weiterleben nach dem Krieg?

Im Regal stehen Fotos ihrer großen Familie: die Schwester, die Zwillingsschwester, die Eltern Foto: Andreas Teichmann

Anläufe: Nach dem Abitur folgte sie dennoch erst einmal ihrem Traum. Sie wollte ins Nachwuchsorchester in Berlin aufgenommen werden. Am ersten Tag sei das Vorspiel gut gelaufen, erzählt sie. Am zweiten nicht. Es wurde ihr geraten, weiter vom Blatt abspielen zu üben. „Das fängt ja gut an“, dachte sie und ließ es sein. „Ich war nicht selbstbewusst. ‚Dann werde ich eben Krankenschwester‘, sagte ich.“ Der Vater wiederum fand es nicht gut, dass sie kein Studium machen wollte. So kam sie zur Medizin. Sie studierte in Berlin und Gießen.

Selbstbewusstsein: „Ich dachte, weil ich so klein bin, brauche ich einen Doktortitel.“ Aber beim ersten Anlauf konnte sie keine Ergebnisse liefern. Ihre Arbeit wurde nicht anerkannt. „Notgedrungen musste ich eine zweite Doktorarbeit schreiben. Ich wollte den Titel unbedingt, obwohl ich ihn nicht gebraucht hätte.“ In der Zeit traf sie auf eine Patientin, die dieselben Symptome hatte wie ihre Schwester. Der Patientin wurde die Milz entfernt, weil sie als Verursacherin der chronischen Krankheit ausgemacht war. Gerson drängte ihre Schwester, sich operieren zu lassen. „Ich wartete vor dem OP-Saal. Der Chirurg kam raus und zeigte mir die viel zu große Milz, ich bin fast in Ohnmacht gefallen.“ Die Behandlung zeigte Wirkung. „29 Jahre habe ich Irene nur krank erlebt. Nun ging es ihr besser.“

Die Praxis: Nachdem Gerson Jahre in Krankenhäusern gearbeitet hatte, bat eine Freundin sie, sie in ihrer Praxis in Wuppertal-Elberfeld zu vertreten. Und bald bat sie sie auch, die Praxis mit ihren fünf Angestellten zu übernehmen. Gerson tat es, ohne viel Ahnung, was daran hängt. „Ich habe Tag und Nacht gearbeitet und kriegte grenzenlos Kredit für die Löhne der vielen Angestellten. Nach ein paar Jahren war ich völlig überschuldet.“ Eine schlimme Zeit. „Aber weil ich glücksbegabt bin, und immer Menschen treffe, die wie Engel sind, hat sich am Ende doch alles geklärt.“

Märchen: „Ich habe wahnsinnig viel gearbeitet. Aber ich habe auch viel auf den Weg gebracht.“ Gerson hat eine Pflegeeinrichtung gegründet, sich in alternativer Medizin weitergebildet, war Ärztin für ausweglose Fälle. „Ich bin Schulmedizinerin, aber dass ich keine anthroposophische Medizin einsetzen darf, obwohl ich mich ein Leben lang damit beschäftigt habe, das verstehe ich nicht. Ich schätze beide Richtungen gleich.“ Hat sie aber doch einmal Zeit für sich, musiziert sie mit anderen oder inszeniert Märchen mit selbstgebastelten Handpuppen. „Das Märchenspiel hat mir die Welt schon während des Krieges erträglich gemacht.“ Es hat ihr gezeigt, dass alles gut wird.

Verzicht: Aber sagen Sie, wie war es mit der Liebe? „Ja das ist auch so ein Ding“, antwortet Annemarie Gerson, „dreimal war ich sehr verliebt, und es war gegenseitig. Die Männer waren verheiratet. Und ich wollte doch nicht dafür verantwortlich sein, dass Menschen sich trennen.“

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2 Kommentare

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  • Was für ein tolles Portrait einer bemerkenswerten Frau. Vielen Dank liebe taz, dass ihr uns so großartige Lebensgeschichten wie die von Frau Gerson näher bringt. Und vielen Dank Frau Gerson für ihre Offenheit, ich bin gerade sehr erfüllt von so einem intensiv gelebten Leben und wünsche Ihnen aus der Ferne alles Gute! :)

    • @jackie_zat:

      Dem Dank und den Wünschen schließe ich mich an. 👍👍