Der Kampf um die Ehe für alle: Ein Happy End

Die Öffnung der Ehe: Der Grüne Volker Beck hat fast 30 Jahre lang dafür gekämpft, der Merkel-Fan Ulli Köppe nur eine Woche.

Ein Mann in weißem T-Shirt mit dem Aufdruck „Bonjour“

Ulli Köppe stellte der Kanzlerin die entscheidende Frage Foto: dpa

BERLIN taz | Für Volker Beck endet an diesem Freitagmorgen ein 28-jähriger Kampf. Mit ruhigen Schritten geht er ein letztes Mal zum Rednerpult des Bundestags. „Das ist ein historischer Tag für unsere Minderheit“, ruft Beck. Er ist ein bisschen aufgeregt, verhaspelt sich, als er weiterredet: „Die Verheißungen unserer Verfassung und unserer Hymne werden dann endlich auch für Lesben und Schwule wahr.“

Zwanzig Minuten später beschließt der Bundestag, dass Schwule und Lesben in Zukunft heiraten dürfen. 393 Jastimmen von 623. Die Grünen schießen mit kleinen Kanonen Konfetti auf Volker Beck. Ein Reporter des Senders Phoenix will ihn interviewen, und Beck bricht die Stimme weg. Er ist am Ziel.

Homosexuelle können sich nun mit alle Rechten und Pflichten verbinden, die heterosexuelle Paare auch haben. Das ist eine Revolution, die Anerkennung der Mehrheit für Menschen, die sie lange ausgegrenzt und verfolgt hat: Ihr seid wie wir.

Volker Beck, 56, Grünen-Politiker und Vorkämpfer für Homosexuellenrechte, muss sich in diesem Moment ein bisschen wie in einem Hollywoodfilm fühlen. Fast dreißig Jahre Kampf, und am letzten Tag das. Seine Fraktionschefin dankt ihm am Rednerpult für sein „Lebenswerk“. Dabei hatte er sich heute nur verabschieden sollen. Beck wird wie andere bekannte Grüne – Christian Ströbele, Marielusie Beck – nach dieser Legislaturperiode nicht mehr im Parlament sitzen. Ein ganz normaler Abgang also. Doch dann kam Ulli Köppe.

Montag, 19.15 Uhr. Berlin, Maxim-Gorki-Theater

Ulli Köppe, 28, wollte die Kanzlerin schon immer einmal live sehen. Nun sitzt er in der zweiten Reihe des Theaters, und Angela Merkel redet nur wenige Meter entfernt auf der Bühne über Haare, Hotelfernseher und Humor. Ein netter Plausch, organisiert von Deutschlands größter Frauenzeitschrift, Brigitte. Bis er zum Mikrofon greift: Grüne, SPD und FDP hätten die Ehe für alle als rote Linie ins Wahlprogramm aufgenommen, sagt Ulli Köppe und fragt: „Wann darf ich meinen Freund Ehemann nennen?“ Applaus. Merkel zögert.

Schon einmal wurde sie mit diesem Thema durch einen Zuschauer konfrontiert. Vor vier Jahren in der „ARD Wahlarena“ argumentierte sie gegen die Öffnung der Ehe mit ihrem Bauchgefühl. Es war einer der wenigen Momente, in denen sie Unsicherheit zeigte. Hohn und Spott waren die Folge.

An diesem Montag sagt Merkel den Satz, der alles verändert: „Ich möchte die Diskussion gerne mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung geht, als dass ich per Mehrheitsbeschluss etwas durchpauke.“

Angela Merkel spricht in ein Mikrofon

Der denkwürdige Abend im Gorki-Theater Foto: dpa

Am Morgen nach Merkels Auftritt schwebt Volker Beck geradezu auf die Fernsehkameras im hohen Atrium des Jakob-Kaiser-Hauses in Berlin-Mitte zu. Die Kanzlerin habe erkannt, dass sie mit einem Nein nichts gewinnen, aber viel verlieren könne. Beck lächelt. Am selben Dienstag kündigt SPD-Chef Martin Schulz an, dass seine Partei das Thema auf die Tagesordnung des Bundestags setzt – zur Not mit den Stimmen der rot-rot-grünen Mehrheit. Eine Sensation für die staatstragenden Sozialdemokraten.

Am Nachmittag des nächsten Tages ist schon absehbar, dass das Parlament die Liberalisierung mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linken beschließen wird.

Hinter Volker Becks Schreibtisch, Raum 1631, Jakob-Kaiser-Haus in Berlin-Mitte, hängt ein schwarz-weißes Plakat, das eine Bahnhofsszene aus dem 19. Jahrhundert zeigt. Der Orient­express wartet am Bahnsteig, der Schaffner mit Schiebermütze lacht, eine Dame mit Hut hat eine Zeitung unter den Arm geklemmt. In der Waggontür steht ein junger Typ in edlem Seidenpyjama und küsst seinen Freund im Wintermantel. Beck springt auf und tippt auf den Typ im ­Pyjama. „Das bin ich.“ Die Dame sei seine Mutter. Beck lacht und erzählt, wie er sich beim Fotoshooting eine Erkältung einfing, weil es saukalt war und regnete. Keiner der Reisenden achtet auf die beiden küssenden Männer, ihr Abschied bleibt intim. Die Szene ­atmet großstädtische lässige Eleganz. Mit dem Plakat warben die Grünen bei der Bundestagswahl 1987 dafür, Schwulsein als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Was bedeutet der Beschluss zur Ehe für alle für Sie, Herr Beck? „Das ist natürlich ein großes Geschenk.“

Beck, kurze graue Haare, die Hemdsärmel hochgekrempelt, regelt den Parlamentskanal auf dem Fernseher in seinem Büro herunter. Der Partner auf dem Plakat sei übrigens ein Heteromodel. Kein anderer hatte sich damals die Kussszene getraut, weil sie Angst gehabt hätten. „Das waren andere Zeiten.“

In den 80ern gilt Schwulsein vielen als etwas Schmutziges, Unnatürliches. Helmut Kohl regiert, die von ihm angekündigte geistig-moralische Wende liegt bleiern über dem Land. Der Spiegel bringt alarmistische Geschichten über Aids, die neue, geheimnisvolle und tödliche Seuche, die die Angst vor Homosexuellen schürt.

Die CSU bläst in Bayern zur Schwulenhatz, fordert Zwangstests, Berufsverbote und Ausweisungen. Bayerns Kultusminister fabuliert, Homosexualität gehöre in den „Randbereich der Entartung“. In diesem Klima fängt Volker Beck als Schwulenreferent bei der Bundestagsfraktion der Grünen an. In der westdeutschen Schwulen- und Lesbenszene hat die Ehe damals einen schweren Stand. Sie gilt als reaktionäres Machtinstrument des Patriarchats, das überwunden werden muss. Während der deutsche Staat Schwule und Lesben mit verklemmter Illiberalität behandelt, beschließt Dänemark 1989 ein Gesetz für eingetragene Partnerschaften. Der Beschluss habe ihnen die Augen geöffnet, erzählt Beck. „Bürgerrechtspolitik muss allen Menschen gleiche Rechte eröffnen.“ Ob die Leute in der Ehe nach den katholischen Moralvorstellungen lebten oder ein wildes Sexualleben hätten, das gehe den Staat nichts an.

Mittwoch, 18 Uhr. Berliner Nikolaiviertel

Der Biergarten ist fast leer, nur zwei Tische sind besetzt. Bis eben hat es geregnet, die Luft ist schwül. Ulli Köppe kommt von einem geschäftlichen Termin, unterm Arm das MacBook. Er arbeitet als Eventmanager bei der Blu-Mediengruppe, die Magazine für Homosexuelle herausgibt. Er bestellt stilles Wasser. Er hat blaue Augen, kurzes blondes Haar, und unter dem weißen Shirt zeichnen sich die Muskeln ab. Köppe lächelt so gut wie immer und wenn er spricht, klingt das fast so, als würde er singen. „Dass ich für die taz mal das Gym ausfallen lasse, hätte ich auch nicht gedacht“, sagt er. Sechsmal die Woche geht er ins Fitnessstudio. Diese Woche schafft er das nicht. Heute hat er mit Dutzenden Journalisten telefoniert, ein Kamerateam von RTL war da. Sein iPhone liegt neben dem Wasserglas. Im Sekundentakt blinkt es auf. „Der RTL-Beitrag lief gerade, in den Hauptnachrichten. Jetzt geht’s ab“, sagt er. „Was hab ich nur getan?“ Am Ende des Abends werden es über 60 Nachrichten bei Facebook sein, Dutzende WhatsApp-Messages, Mails, SMS, unbeantwortete Anrufe. Die roten Symbole auf dem Display machen ihn nervös. „Ich bin ein sortierter Mensch, ich habe meinen Schreibtisch normalerweise im Griff.“

Er ärgert sich über Kommentatoren, die schreiben, Merkel habe am Montagabend Homophobes gesagt, als sie von Jugendämtern redete, die lieber homosexuellen Paaren ein Kind geben, als es in einer gewalttätigen Familie zu lassen. Köppe stellt das Wasserglas zur Seite, seine Stimme wird bestimmt, sein Lächeln verschwindet: „Sie meinte, dass sie in ihre Überlegungen solche praktischen Dinge wie die Realität der Jugendämter einbeziehen muss“, sagt er. Klar habe Merkel zu viel Zeit gebraucht für ihren Umschwung, aber sie habe sich Gedanken gemacht und einen Gesinnungswandel vollzogen. „Das ist ja fast schon Selbstkritik“, sagt Köppe. Er hatte solche Diskussionen schon. Mit seiner Mutter.

Ein junger Mann kommt als Flüchtling aus dem Irak nach Sachsen. In einem Supermarkt gibt es Ärger, vier Männer fesseln ihn an einen Baum. Kurz bevor ihnen der Prozess gemacht werden soll, findet man den Flüchtling tot im Wald. Zufall? Das fragt die taz.am wochenende vom 1./2. Juli. Außerdem: Rapper Bushido versucht sich an sein Praktikum im Bundestag zu erinnern. Und: Sechs Seiten zur Entscheidung im Budnestag für die Ehe für alle. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Die sagte einmal, sie könne Merkel nicht wählen, weil diese ihrem Sohn Rechte verwehrt. „Warum nicht, ich kann es doch auch“, sagte Ulli Köppe. Nachdem er Merkel am Montag erlebt habe, sei klar, dass er sie wähle im September. Und nicht nur wegen ihrer Antwort auf seine, wie er es nennt, „kleine Frage“.

Im Juni 1989 schrieb Volker Beck mit dem Grünen-Mitarbeiter Günter Dworek und dem früheren Bundesanwalt Manfred Bruns ein Papier mit dem Titel „Möglichkeiten und Grenzen schwul-lesbischer Rechtspolitik für die 90er Jahre“. Darin machten sie sich Gedanken über eine geregelte Lebensgemeinschaft. Für viele in der Szene war das eine ungeheure Provokation. Die drei Männer dachten nicht mehr über den Kampf gegen das System nach, sondern über die Emanzipation und die freie Wahl des Einzelnen. Wenig Pathos, dafür kleinteilige Geländegewinne. Eine lesbische Grünen-Abgeordnete verdammte sie in einem Gegenpapier: „Macht die Mottenkiste zu“. Beck wohnte mit der Verfasserin in einer WG in Bonn, erzählt er, sie löste sich wegen des Ehekrachs auf.

Über die Ehedebatte hätten sie ganz andere Schwule und Lesben mobilisiert, sagt Beck in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus und lehnt sich nach vorne, „Leute, die im Beruf standen, die mit dem linksradikalen Milieu nichts anfangen konnten.“ Beck und seine beiden Mitstreiter kehrten dem westdeutschen Schwulenverband den Rücken. Nach der Wende gingen sie zum SVD, dem Schwulenverband in der DDR. Der wurde später in den gesamtdeutschen Lesben- und Schwulenverband in Deutschland umbenannt. Der Verband stellte mit der Forderung der Ehe für alle den westdeutschen Konkurrenzverband zunehmend ins Abseits, der löst sich 1997 schließlich auf.

Die Ehestreiter planten, verschickten Statements, riefen bei Politikern an und verschickten jeden Schnipsel, den die taz oder die „Aus aller Welt“-Seite der Frankfurter Rundschau über sie druckte, an die Community. Ab und zu landeten sie einen Coup.

Am 19. August 1992 sitzt der 31-jährige Beck in seiner Frankfurter Dreizimmerwohnung, die gleichzeitig die SVD-Pressestelle ist – und hängt ständig am Telefon. Ihre „Aktion Standesamt“ schlägt ein wie eine Bombe. 250 schwule und lesbische Paare haben überall in der Republik vor Standesämtern das Aufgebot bestellt – und fordern das Recht, zu heiraten. Die Regional- und Lokalblätter druckten Porträts, die Nachrichtenagenturen berichteten. Manche Schwule lebten in Designerwohnungen, manche hatten einen röhrenden Hirsch an der Wand, wieder andere waren Ökos. „Die Leute erkannten, Mensch, die sind ja so toll wie wir oder so schrecklich wie unsere Nachbarn“, sagt Beck in seinem Büro. „Die gängigen Klischees wurden dekonstruiert.“

Mittwochabend, 20 Uhr, Autofahrt nach Berlin-­Schöneberg

Auf dem Beifahrersitz erzählt Ulli Köppe von seiner behüteten Kindheit mit einer Schwester und toleranten Eltern im thüringischen Saalfeld. Dort wurde er im April 1989 geboren. „Ich wusste schon immer, dass ich schwul bin“, sagt er. Mit 16 zog er nach Berlin in eine Einraumwohnung im Plattenbau und begann eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Nach wenigen Monaten lernte er seinen heutigen Freund kennen. Seit 12 Jahren sind sie ein Paar, verlobt, verpartnern wollten sie sich nicht.

Die Bild habe schon gefragt, ob sie eine Exklusivstory zur Hochzeit bekommen kann. „Müssen wir jetzt heiraten?“, fragte sein Freund am Dienstag. Sie hätten sich darauf ­geeinigt, sie müssten es nicht.

Volker Beck, sitzend, die Arme weit ausgebreitet

Volker Beck am Freitag im Bundestag Foto: dpa

Wie findet Ulli Köppe eigentlich Volker Beck? „Ich habe noch nie Drogen genommen“, sagt Ulli Köppe. Beck war laut Medienberichten im März 2016 mit Crystal Meth erwischt worden. Er wisse um die historischen Verdienste, aber in der aktuellen Politik der Grünen finde er sich kaum wieder. Dafür reise und fliege er viel zu gern. Auch die Diskussion über gendergerechte Sprache sei nicht sein Ding. „Es gibt so viel Wichtigeres“, sagt Köppe, „Rentenpolitik, Steuern, Syrien, Arbeitslosigkeit.“

Lange weht Volker Beck in der Politik der Hauch bundesrepublikanischer Verklemmtheit an. Sie kleben ihm abgerollte Kondome an die Bonner Bürotür, daran erinnert er sich. Der Bundestagspräsident lehnt einen Antrag der Grünen-Fraktion ab, weil die Worte „Schwule“ und „Lesben“ in der Überschrift stehen. Begründung: Diese Begriffe würden von vielen KollegInnen nicht als Bestandteil der Hochsprache anerkannt.

Auch das ist etwas, wofür Beck bis heute steht. Er war und ist fast der einzige schwule und prominente Vertreter einer Partei, der offensiv für die Sache seiner Community kämpfte.

Politiker wie Wowereit oder Spahn, die viel Applaus für ihr Outing bekamen, haben ihr Schwulsein nie als politischen Auftrag begriffen.

Beck schon. Er wappnet sich früh mit Fakten gegen die vielfältigen Angriffe. Seine gedrechselten Sätze, seine kleinteilige Faktenhuberei, seine Lust an der Selbstdarstellung, das wirkt schnell arrogant. Oft schießt er einen lässigen Witz zurück, wenn ihm jemand verschwitzt kommt. Und er zeigt fast nie Schwäche. „Schwäche hätte das Klischee bestätigt“, sagt er. „Ich habe mir einen Panzer zugelegt. Ohne ihn hätte ich die Arbeit in den Parlamentsgremien nicht überlebt.“ Seine Freunde bei den Grünen sagen, er sei ein gnadenlos guter Verhandler – und immer an der Sache interessiert. Seine Feinde sagen, er sei vor allem an sich selbst ­interessiert. Wahrscheinlich stimmt von beidem etwas.

Dann ist da die Sache mit der Pädophilie. Beck veröffentlicht 1989 in einem Sammelband einen Text, in dem er die teilweise Entkriminalisierung von gewaltfreiem Sex mit Kindern fordert. Gleichzeitig plädiert er aber für die Abkehr von der noch radikaleren Forderung einer völligen Entkriminalisierung, die damals von ­Pädophilen in der Schwulenszene und bei den Grünen vertreten wurde. Von der ersten Forderung distanziert sich Beck heute. Vor der Bundestagswahl 2013 behauptet er, der Text sei von dem Herausgeber durch freie Redigierung verfälscht worden. Als ein Wissenschaftler das Originalmanuskript findet, stellt sich heraus, dass der Herausgeber nur geringe Änderungen vorgenommen hat.

Diese Täuschung kreiden ihm viele Menschen bis heute an, auch viele Grüne. Dagegen ist die Sache mit der Droge Crystal Meth eher vernachlässigbar. Dass die Grünen Beck nicht mehr für den Bundestag aufstellen wollen, hat mit diesen Skandalen zu tun, aber auch mit einem verbreiteten Gefühl, es seien nach 23 Jahren im Parlament mal Neue dran.

Mittwochabend, 20.30 Uhr. Berlin-Schöneberg

Im Wohnzimmer – Sichtbeton und Designermöbel – sitzen gut 30 Männer bei Sekt und Likör, Chips und Häppchen. Ein Beamer steht auf einem Beistelltisch. Köppe ist der Einzige, der nicht in Socken umherläuft. Einige tuscheln. „Ist er das?“ Köppe gießt sich Leitungswasser ins Glas.

Zum fünten Mal treffen sie sich hier schon – schwule Männer, die gemeinsam einen Film gucken und davor ein bisschen über Homopolitik diskutieren. Sie nennen es „Q* Movy Night“, heute wird die schwedische Komödie „Patrick 1,5“ laufen. Ein Vertreter des Stammtischs schwuler Väter ist da und einer von den Lesben und Schwulen in der Union.

Ulli Köppe steht etwas verloren am Rand und arbeitet die Nachrichten auf seinem Smartphone ab.

„Der Mann des Tages ist da. Ulli hat eine kleine Frage gestellt, die viel bewegt hat“, sagt der Organisator, schnittiges weißes Hemd, die blonden Haare nach hinten gegelt. Applaus. Der Beamer nimmt seinen Dienst auf, das Video vom Montag wird abgespielt, es beginnt mit der Frage von Köppe an die Kanzlerin. „Ein historischer Moment“, sagt einer im Wohnzimmer. Jubel bricht aus. Ulli Köppe verschwindet, bevor der Film anfängt.

Im August 2001 tritt das von Rot-Grün erlassene Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft in Kraft. Es ist nur ein Torso, viele Rechte müssen vom Bundesrat abgesegnet werden. Dort blockiert die Union. In der entscheidenden Bundestagsdebatte wetterte der CSU-Rechtsaußen Norbert Geis gegen den Angriff auf die Gesellschaft und Familie. Auch SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, eine prominente Protestantin, bremst.

Beck gießt sich in seinem Büro ein Glas Wasser ein. „Mir war klar: Nur wenn wir minutiös alle Pflichten in das Gesetz schrei­ben, können wir später fordern, dass wir auch alle Rechte wollen.“ Ob das allein seine Idee ist? Unklar. Aber mit diesem Gedanken legt Beck den entscheidenden Grundstein. Die Schwulen und Lesben gehen in Vorleistung. Sie bekommen die Pflichten, aber kaum Rechte. Dafür haben sie jetzt ein gutes Argument für Talkshows und Gerichte, gleiche Rechte für alle zu fordern. 2001 scheitern die unionsgeführten Länder Bayern, Sachsen und Thüringen mit einer Normenkontrollklage vor dem Verfassungsgericht. Später zwingen die Richter in Karslruhe die Regierungen unter Merkel, die Lebenspartnerschaft an die Ehe anzugleichen. Schwule und Lesben bekommen gleiche Rechte bei der Hinterbliebenenrente, bei der Erbschaft- und Schenkungssteuer und beim Ehegattensplitting. Sie dürfen seit 2013 das Kind oder Adoptivkind ihrer Partnerin oder ihres Partners adoptieren. Die gemeinsame Adoption eines Kindes ist nicht möglich. Das wird sich jetzt ändern.

Donnerstag, 9.30 Uhr, Berlin-Mitte

Im Büro des Lesben- und Schwulenverbands stapeln sich Ordner in Regalen, in der Mitte haben sie vier Tische zu einem großen zusammengestellt. Der Verein der ausländischen Presse hat Ulli Köppe zu einer Pressekonferenz geladen. Volker Beck sollte auch kommen. Er hat dann noch abgesagt. Ulli Köppes Lächeln verschwindet wieder für einen kurzen Moment. Kennengelernt hätte er ihn jetzt schon gerne. Dafür sitzen hier die Vorstände des Vereins und Stefan Kaufmann, einer der wenigen offen schwulen Bundestagsabgeordneten der CDU. Ulli Köppe redet wieder über die Kanzlerin: „Ich mag ihr di­plomatisches Denken, ihren Einsatz für Europa.“ Die Journalisten haken nach. Der Mann, der die Kanzlerin in Schwierigkeiten brachte, soll ein Merkel-Fanboy sein? „Sie ist eben meine Kanzlerin bei Themen wie Sozialpolitik, Steuern, Europa“, sagt Ulli Köppe.

Eine Journalistin vergleicht Köppe mit dem Mann, der 1989 SED-Funktionär Günter Schabowski fragte, wann die neuen Regeln zur Reisefreiheit in Kraft treten, worauf dieser „Nach meiner Kenntnis ist das sofort“ ­antwortete. „Die Ehe für alle sollte man auf keinen Fall mit dem Mauerfall vergleichen“, sagt Köppe. Das sei damals schon eine Nummer größer gewesen.

Als die Grünen ihren Parteitag vor zwei Wochen inszenieren, landet Beck noch mal einen Coup für die Ehe für alle. Er streitet mit dem Vorstand darüber, einen Satz ins Wahlprogramm zu schreiben, der die Reform zur Bedingung für eine Koalition macht. Das passt eigentlich nicht in die Strategie der Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir. Sie wollen die Ehe für alle auch, haben das in Interviews mehrfach gesagt. Aber unverhandelbare rote Linien soll es nicht geben, die Grünen-Spitze will in Koalitionsverhandlungen flexibel bleiben. Doch Beck lässt sich nicht von den Emissären des Vorstands erweichen. Dahinter steckt eine nüchterne Überlegung. Erstens hätte er die Abstimmung auf dem Par­teitag wahrscheinlich gewonnen, die Grünen lieben solche klaren ­Signale. Zweitens ist die Ehe für alle, die eine große Mehrheit der Deutschen gut findet, kein echtes Risiko für Koalitionsverhandlungen. Am Ende ­übernimmt der Vorstand Becks Satz ohne Änderung. Keiner hat Lust, gegen die Ehe für alle zu reden.

Wenig später erklärt FDP-Chef Christian Lindner, er werde seiner Partei empfehlen, die Ehe für alle zur Koalitionsbedingung zu machen. Dann folgt die SPD. Plötzlich ist Merkels Union isoliert – und stünde bei einem starren Nein ohne Koalitionspartner da.

Freitag, 7.50 Uhr, Nord­eingang Reichstag

Seit zwanzig Minuten hat Ulli Köppe Interviews gegeben, nun ist er endlich durch den Security-Check. Da sieht er die Kanzlerin. Blauer Blazer, schneller Schritt. „Ob ich sie um ein Foto bitten soll?“ Er blickt sich ein paarmal um, unsicher. „Frau Merkel, könnten ich ein Foto machen?“ Die Kanzlerin lächelt, lehnt freundlich ab. Jetzt passe es gerade nicht. „Ob sie mich wohl erkannt hat?“

Freitag, 8.00 Uhr, Presse­tribüne

Die Debatte beginnt, Köppe sitzt am Rand der Pressetribüne und hört den Rednern zu. Manchmal nickt er, macht ein Selfie. Die ersten Journalisten erkennen ihn, schicken ihre Kamerateams und Fotografen. Er posiert für Bilder, gibt Interviews, Dutzende innerhalb von 45 Minuten. „Ich bekomme gar nichts mit“, sagt er in einer Pause.

Freitag, 8.58 Uhr, vor der Pressetribüne

Merkel hat mit Nein gestimmt. „Ein bisschen enttäuscht bin ich schon, aber dann ist das eben so. Ich mag sie trotzdem“, sagt Köppe.

Freitag, 9.15 Uhr, vor der Pressetribüne

Die Ehe für alle ist durch. Ulli Köppe erfährt das während eines Interviews. Er sagt dann später noch, dass er und sein Freund es sich doch noch mal überlegen wollen, das mit dem Heiraten.

Volker Beck hat gewonnen.

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