Der Roman „Jagen 135“: Die Suche nach dem Ort der Freitode

Ein Fotograf soll den Ort finden, an dem sich viele Menschen selbst töten. Das Twin-Peaks-Mäßige des Buches zieht den Leser in seinen Bann.

Bäume im Wald

Draußen in der Welt, außerhalb des unheimlichen Waldes, beginnt ein Weltkrieg vermutlich. Foto: dpa

Konrad ist ein Fotograf in seinen Vierzigern. Mit Kriegsbildern wurde er reich und berühmt. Die Redaktion der Zeitung, für die er arbeitet, hat ihn beauftragt, in einem Wald den Ort zu finden und zu fotografieren, an dem sich seit Jahrhunderten Menschen das Leben nehmen. 132 sollen es gewesen sein. Wo genau dieser Ort ist, ist unklar.

„Die Angaben in den Zeitungsartikeln und in den Polizeiberichten decken sich nicht mit den Aussagen der Hinterbliebenen. Einige behaupten, der Ort liege südlich der Grenze, außerhalb der Sichtweite der Wachposten, andere vermuten ihn in Richtung Norden, in der Nähe der Flussbiegung. Viele sind überzeugt, er müsse im Zentrum des Waldes liegen, von den nächsten Siedlungen am weitesten entfernt.“

Zwei seiner Kollegen hatten Jahre vor ihm vergeblich versucht, den magischen Ort zu finden. Verstört sind sie zurückgekommen; „von Meier hat man seitdem nie wieder etwas gelesen, und Stachmann wurde für verrückt erklärt“.

Der dritte Roman von Tobias Sommer beginnt wie eine klassische unheimliche Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, und als Zeitgenosse möchte man noch gegen das Setting protestieren: Im Journalismus ist Selbstmord ein Tabuthema! Keine Zeitung würde eine derartige Geschichte in Auftrag geben. Jede Berichterstattung, die den Suizid als nachvollziehbar darstellt, gilt als verwerflich, da sie potenzielle Selbstmörder ermutigen würde.

Tobias Sommer: „Jagen 135“. Septime Verlag, Wien 2015, 288 S., 21,90 Euro.

Vor 70 Jahren berieten sich auf der Potsdamer Konferenz Sowjets, Amerikaner und Briten über die Zukunft Deutschlands. Heute leben viele ihrer Enkel in Berlin. Drei von ihnen haben wir getroffen. Das Gespräch lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Juli 2015. Außerdem: Lange Beine, pralles Dekolleté? Alles von gestern. Die neuen weiblichen Schönheitsideale sind die Oberschenkellücke und die Bikini-Bridge. Über den Wahn von Selfie-Wettbewerben im Internet. Und: In Kabul haben sich Witwen einen eigenen Stadtteil gebaut. In der Gemeinschaft gewinnen sie Respekt zurück. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Diffuse Landschaft der Erzählung

Beim Weiterlesen vergisst man jedoch die Einwände und lässt sich in die seltsam diffuse Landschaft der Erzählung hineinziehen. Es ist unklar, in welchem Land und in welcher Zeit „Jagen 135“ spielt. Nicht in Deutschland. Irgendwo, wo es große Wälder gibt, vermutlich in Mitteleuropa, vermutlich in den frühen neunziger Jahren, da in dem Buch keine Handys benutzt werden. Man ist sich nicht sicher, und es ist auch nicht so wichtig. Der Held, ein eher zurückhaltender, stiller Charakter, ist auf sich selbst zurückgeworfen. Die ersten Tage verbringt er in einem alten Hotel. Beobachtet Insekten, die in Gläsern gefangen sind, hat das Gefühl, beobachtet zu werden. Macht erste Erkundungsgänge im Wald. Ein anderer Gast, Kurtz, ist auch da und wird später wieder verschwinden.

Konrad wechselt die Herberge und trifft dort Susanne, die nach dem Ort sucht, an dem sich ihr Sohn, ein junger berühmter Sportler, das Leben nahm.

Abweisende Menschen

Die Suche nach dem Ort der Freitode hat etwas Twin-Peaks-Mäßiges. Dieser Ort saugt den Suchenden an und stößt ihn ab. Die Stadt ist weit, die Menschen sind eher abweisend, bis auf den Besitzer eines Dorfladens, der mehr weiß, als er sagt.

Draußen in der Welt, außerhalb des unheimlichen Waldes, beginnt ein Weltkrieg vermutlich. Den Fotografen lässt das seltsam unberührt. Er denkt über Leben und Glück und den ausbeuterischen Teil seiner Arbeit nach, das Foto vor allem, das ihn so berühmt gemacht hatte. Ein Hochzeitsfoto aus einem Krieg im Nahen Osten. Die Braut ist eine Bombe.

Oft versucht Konrad mit seiner Frau, die gerade in Israel zu tun hat, zu telefonieren. Die Verbindung wird immer schlechter, bis dass er sie nicht mehr erreicht. Die Suche geht weiter. Die Dörfler werden feindselig. Seltsame Dinge geschehen.

Tobias Sommer ist ein atmosphärisch dichter, spannungsreich erzählter Roman gelungen, der manchmal wie aus der Zeit gefallen wirkt. Auch weil er der Versuchung widersteht, die mittlerweile üblichen 400 Seiten lang zu sein, und seine Figuren eher knapp beschriebt. Eine Erklärung für den irgendwie Science-fiction-haften Titel findet sich im Internet: Der ehemalige Selbstmörderfriedhof Berlins befindet sich im „Jagen 135 des Grunewalds“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.