Der Sozialphilosoph Ulrich Sonnemann: Mehrstimmigkeit suchen

Der Sozialphilosoph Ulrich Sonnemann war ein Unruhestifter, Lagerdenken ließ er nicht gelten. Seine Wiederentdeckung lohnt sich.

Porträt Ulrich Sonnemann

Für Ulrich Sonnemann darf Kritik nicht vor der eigenen Haustür aufhören Foto: Digne Meller Marcovicz/bpk

Der Sozialphilosoph Ulrich Sonnemann setzte sich unermüdlich für eine kritische Öffentlichkeit ein. Zu Lebzeiten laut hörbar, wurde es nach seinem Tod im Jahr 1993 still um ihn. Angesichts einer verhärteten Debattenkultur gewinnen seine Bemühungen um Differenzierung wieder an Aktualität.

Dogmatismus und politisches Lagerdenken galten Ulrich Sonnemann als Widersacher einer humanen Gesellschaft. Sein Hauptwerk, die „Negative Anthropologie (1969), zeigt sich geradezu erschüttert von einer einseitigen Ostorientierung der studentischen Opposition um 68. Sonnemann versucht zu ergründen, warum sich die Studierenden für die Niederschlagung des Prager Frühlings kaum zu interessieren scheinen und den Fortschritt vielmehr nach gängigem Freund-Feind-Schema im Osten verorten. Im Westen hingegen vermuten sie die Repression, gegen die in Prag revoltiert wird. Dieser Hang zum kritiklosen Zementieren von Standpunkten folgt laut Sonnemann einem Wunsch nach übersichtlichen Weltanschauungen, die sich in plakativen Floskeln ausdrücken.

Die Wege zu mehr gesellschaftlicher Freiheit liegen für Sonnemann hingegen in entgegengesetzter Richtung: Mit den Mitteln der Kritischen Theorie deckt er verhärtete Kommunikationsweisen und deren Ursachen auf. Dabei vertraut er auf die Möglichkeiten des Hörens als Sinn für Mehrstimmigkeit und für Unvorhersehbares. Für Sonnemann ist zuhörendes Nachdenken, wie er es selbst als Psychotherapeut im Therapiegespräch praktizierte, Voraussetzung gelingender Gesellschaftskritik.

Als Sonnemann 1974 an der kurz zuvor gegründeten Universität Kassel (damals Gesamthochschule) eine Professur für Sozialphilosophie antrat, war er bereits 62 Jahre alt. Zuvor hatte Sonnemann verschiedene Professuren in Amerika und Westdeutschland inne, allerdings jeweils nur mit Gaststatus. Seine Laufbahn bis zur ordentlichen Berufung war alles andere als gradlinig.

Deutschland verließ er 1933

Geboren wurde Sonnemann am 3. Februar 1912 in Berlin. Sein Vater Leopold Veit Sonnemann war Leiter des Berliner Büros der Frankfurter Zeitung (F.Z.), die 1856 von einem Verwandten gegründet worden war und sich als wichtiges Organ des liberalen und intellektuellen Milieus der Weimarer Republik etablierte. Seine Mutter, Elfriede Wiener, war eine vom Impressionismus geprägte Malerin.

Im Berliner Haus der Sonnemanns verkehrten literarische Größen der 1920er Jahre wie Joseph Roth und Siegfried Kracauer, die beide für die F.Z. schrieben. Ulrich Sonnemann machte in seiner Jugend Bekanntschaft mit ihnen und ließ früh schriftstellerische Ambitionen und Interesse an Kunst erkennen. Er studierte schließlich Soziologie und Philosophie in Berlin, Freiburg und Frankfurt am Main.

Als Antifaschist mit jüdischer Abstammung verließ er bereits 1933 das nationalsozialistische Deutschland, zunächst Richtung Wien, ging dann nach Paris und schließlich in die Schweiz. In Basel verfasste er seine Promotion, in Zürich setzte er sich intensiv mit Psychologie und Handschriftenanalyse auseinander.

Sonnemann wurde, da er sich 1940 in Belgien befand, mit Beginn der deutschen Westoffensive interniert und nach Frankreich gebracht. Aus dem Lager Gurs konnte er sich, ähnlich wie die ebenfalls dort internierte Hannah ­Arendt, 1941 gerade noch retten und emigrierte daraufhin in die Vereinigten Staaten. Nachdem er dort in verschiedenen Positionen als Psychologe und Gastprofessor tätig gewesen war, kehrte Sonnemann Mitte der 50er in die junge Bundesrepublik zurück. Erst zu diesem Zeitpunkt wandte er sich von der zwischen Martin Heidegger und Sigmund Freud vermittelnden, therapeutischen Daseinsanalyse ab und der von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und anderen geprägten Gesellschaftstheorie zu.

Freundschaft mit Adorno

Sonnemanns Annäherung an die Kritische Theorie führte später zu einer engen Freundschaft mit Adorno. Sie setzten sich für gemeinsame intellektuelle Anliegen ein und Adorno versuchte mehrfach, Sonnemann auf eine Professur nach Frankfurt zu holen, scheiterte aber an hochschulpolitischen Widerständen. Womöglich auch deshalb, weil Sonnemann vor allem als Autor von polemischen Bestsellern bekannt war. Sein „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten (1963) stand lange auf der Bestsellerliste des Spiegels und ließ kaum ein gutes Haar an jenem Deutschland, in das er aus dem Exil zurückgekehrt war und in dem der Nationalsozialismus nachwirkte.

Sonnemann war aber keineswegs nur Polemiker. Für eine bessere Pädagogik in Deutschland engagierte er sich beispielsweise, indem er ein Lesebuch mit deutscher Revolutionsliteratur („Der kritische Wachtraum, 1971) zusammenstellte. Dies war eine Reaktion auf die durch aufmerksames Lesen aufgedeckten Kontinuitäten von Blut und Boden in den offiziellen Textsammlungen für den Deutschunterricht.

Seine oft sprachkritischen und von seiner psychoanalytischen Schulung geprägten Beiträge nahmen sich zudem den Staat und dessen Verwaltungssprache vor. Der in Buchform veröffentlichte Verdacht einer Verstrickung von Franz Josef Strauß in eine Straftat („Der bundesdeutsche Dreyfus-Skandal“, 1970) bescherte ihm ein Verbot des Buches und ebenso eine Hausdurchsuchung.

Kritik darf für Sonnemann aber nicht vor der eigenen Haustür aufhören. Auch emanzipatorische Bewegungen müssen sich deshalb immer wieder selbst fragen, ob sie wirklich zur Erweiterung von Freiheit beitragen. So legte Sonnemann sich, durchaus in solidarischer Absicht, auch mit der studentischen Opposition an. Seine Kritik galt nicht zuletzt einer Art Bekennersprache, wie sie von der APO kultiviert wurde und die abweichende Meinungen im eigenen Lager nicht selten mundtot machte. Laut Sonnemann kann dagegen nur der Dialog, der in seiner kontroversen Vielstimmigkeit ausgetragen wird, zu einer freieren Gesellschaft beitragen.

Eine an Schlagwörtern festklebende Sprachpolitik lehnte Sonnemann ab. Seine eigenen Texte, darunter ein Roman („Die Dickichte und die Zeichen, 1963), unternehmen den Versuch eines praktischen Gegenmodells hierzu. Sie sind für das Ohr geschrieben und wollen damit das Denken in Bewegung halten, indem ihre Sprache vermeintlichen Gewissheiten ins Wort fällt.

Die vielen Einschübe in Sonnemanns oft herausfordernder Syntax sollen seine Texte so davor bewahren, zu verkürzten Parolen zu werden. Auf den Einwand, in seiner komplexen Sprache äußere sich ein Jargon der Dialektik, entgegnete Sonnemann: „Für die Frage, ob Sprache ihrem Inhalt wie eine Haut anliegt (wie sie soll), ist die absolute Schwierigkeit eines Satzes ohne Bedeutung: das Nein auf sie erzwingt erst den Nachweis, daß die seines Gehaltes geringer ist – daß man diesen, ohne ihn zu verändern, einfacher ausdrücken kann.“ Solche Sprache will zum kritischen Dialog einladen, nicht monologisieren.

Auf Gegenliebe stieß diese Einladung zum Gespräch nicht überall. Einen Vortragsbesuch an der Freien Universität Berlin im Sommer 1968 quittierten Teile der Studierenden mit Unverständnis und politischen Beschuldigungen. Auch der Religionsphilosoph Jacob Taubes beteiligte sich hieran und warf Sonnemann nachträglich in einem in Kopie an Adorno verschickten Brief vor, im Liberalismus festzustecken. Adorno verteidigte daraufhin seinen Freund als zutiefst politischen Denker, der bei aller Freiheitsemphase niemals deren gesellschaftliche Voraussetzungen vergesse. An Taubes schrieb Adorno, Sonnemann „gehört zu jenem mir ungemein sympathischen Typus, der durch die Konsequenz der Liberalität dazu gedrängt wird, über sie hinauszugehen“.

Kampf um einen demokratischen Rechststaat

Angesichts einer wieder verhärteten Debattenkultur darf Sonnemanns Einsicht, dass sich politische Probleme nur im offenen Austausch von Argumenten bearbeiten lassen, als weiterhin zeitgemäß gelten. Sonnemann führte seinen Kampf um einen tatsächlich demokratischen Rechtsstaat nicht nur publizistisch, sondern ebenso öffentlichkeitswirksam mit Petitionen und Memoranden. Als aktives Mitglied in der Humanistischen Union und des PEN-Zentrums zählte der offene Brief zu Sonnemanns Waffen der Kritik.

Heute muten solche Schreiben nicht selten wie eine Schwundform der Selbstprofilierung an, zumal in den sozialen Medien inzwischen andauernd beliebig viele Meinungsäußerungen kommuniziert werden. Sonnemann hingegen agierte in Zeiten einer vor allem durch Printmedien gehüteten Öffentlichkeit und so diente ihm der gemeinsam mit anderen Intellektuellen verfasste Brief als ein damals adäquates Mittel der Kritik.

Er stritt beispielsweise, wie auch sein Freund Heinrich Böll, für das Unterlassen der Denunziation sogenannter Sympathisanten. Diese Bezeichnung wurde in der von Sonnemann beargwöhnten Springerpresse gewählt, um bereits vor der juristischen Aufarbeitung des linken Terrorismus das vermeintliche Umfeld der ideologischen Unterstützung zu bezichtigen.

Die Geschichte von Sonnemann als öffentlichem Intellektuellen, dessen Bücher trotz philosophischer Sprache ein breites Publikum erreichten, ist noch nicht geschrieben. Das liegt wohl auch daran, dass sich in der akademischen Öffentlichkeit das Bild der Kritischen Theorie als Frankfurter Schule etablieren konnte. Diese Geschichtsschreibung zeigt nur an den prominentesten Figuren wie Adorno, Horkheimer oder Jürgen Habermas Interesse. Sonnemanns Nachlass wird inzwischen im Archiv der Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg in Frankfurt am Main erschlossen.

Dass es neben der fast abgeschlossenen Edition von Sonnemanns Schriften nun eine zweite Möglichkeit gibt, Sonnemanns Wirken zu erforschen, lässt hoffen, dass das Streiten des 1993 verstorbenen Unruhestifters wiederentdeckt wird. Auch heute noch könnte es als Modell dienen für eine gegenstandsnahe, kritische Intellektualität. Dieser ginge es nicht um vermeintliche Disziplingrenzen als vielmehr um ein Nachdenken über das Verhältnis politischer Ambitionen zu ihren sprachlichen Formen.

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