Der Wiener Eissalon Tichy: Für die Omas, die Bros und die Gemeindebaukinder
Im Eissalon Tichy treffen ist eine Institution im bunt gemischten Bezirk Favoriten. Vor genau 100 Jahren wurde sein Gründer Kurt Tichy geboren.
Pistazien, selbst geröstet, Haselnüsse, frische Weichselkirschen und Mangos. Und natürlich viel Butter, Schlagobers, Zucker. „Wenn nix drin ist, schmeckt’s nach nix“, ist das Motto bei Tichys Eissalon am Wiener Reumannplatz. Fertigmischungen? Kommen hier nicht in die Waffel!
Das bunte Publikum von Wien-Favoriten weiß das zu schätzen und steht Schlange: die Omas und die Bros und die Gemeindebaukinder. An manchen Sommertagen reihen sie sich 300 Meter lang, bis hinüber zum Amalienbad. Die Tichy-Frauen in den pinken Schürzen schaufeln und schaufeln über die Theke, Väter tragen ganze Kühlboxen zu ihren Sportwagen. Voll mit Eiscreme und der Spezialität des Hauses: Eismarillenknödel.
Vor 100 Jahren, am 17. August 1925, wurde Gründervater Kurt Tichy geboren, 70 Jahre feiert sein Laden in diesem Jahr. Der Eissalon Tichy ist damit genauso alt wie der österreichische Staatsvertrag – und mindestens so bedeutend. Zumindest zeigt sich rund um den Tichy, mit seinen rot-weißen Markisen, das ganze Drama der Zweiten Republik. Die nämlich wollen die Rechtsextremen zerstören.
„No-go-Area“ nennt die FPÖ im Wiener Gemeinderat den Reumannplatz. Dabei gehen offensichtlich sehr viele Menschen dorthin, die Kriminalität in Wien-Favoriten liegt nur ganz gering über dem Stadtdurchschnitt – und unter den Fallzahlen von angeseheneren Bezirken wie Mariahilf, Neubau oder Alsergrund.
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Doch wen kümmern Fakten, wenn die Lügen von der „Ausländerkriminalität“ so süß nach Überlegenheit schmecken. Und politischen Erfolg versprechen. 17,7 Prozentpunkte hat die FPÖ bei der jüngsten Gemeinderatswahl im Bezirk zugelegt, viele völkisch Besorgte wünschten, Tichys Eissalon würde umziehen, ein, zwei U-Bahn-Stationen weg vom Reumannplatz.
Kurt Tichy II., Sohn des Salongründers, hält dagegen. „Die Politik und die Medien übertreiben alles maßlos“, sagte er kürzlich dem Standard. „Wir bleiben, was wir sind – und wo wir sind“.
Vor 100 Jahren wurde sein Vater, Kurt Tichy I., hier in Favoriten geboren. Weil der junge Mann als Soldat im Zweiten Weltkrieg war, schloss er verspätet seine Meisterprüfung ab, ausgerechnet als Zuckerbäcker. In Zeiten der Mangelwirtschaft! Kein Kakao, keine Butter – Kurt Tichy experimentierte deshalb mit Erdbeeren und fuhr sein „Speiseeis“ mit einem Lastenfahrrad durch die Schrebergärten Wiens. 1955 schließlich eröffnete er den Salon am Reumannplatz, der sich in der neutralen Republik Österreich zur Institution entwickelte. Nicht zuletzt wegen des 1967 patentierten Eismarillenknödels, einer Kugel aus Aprikoseneis, umhüllt von einer Vanilleschicht, gewälzt in Nusssplittern.
Wien dankte es ihm. 1974 erhielt Tichy für seinen Betrieb das Recht, das österreichische Staatswappen zu führen, später verlieh die Stadt ihm den Titel Kommerzialrat und machte ihn zum Ehrenbürger. 2004 benannte seine Heimatstadt die Kurt-Tichy-Gasse nach dem 1999 verstorbenen Eiskönig.
Mit Enkelin Xenia Tichy ist die Thronfolge in dem Salon mit den weißen Achtzigerjahrestühlen gesichert – und der republikanische Geist. „Bei uns sitzen alte Damen, die uns seit Jahrzehnten die Treue halten, neben muslimischen Großfamilien, und das soll so bleiben“, sagte die 29-Jährige im Standard. 80 Prozent des Tichy-Personals hätten selbst eine Migrationsgeschichte zu erzählen. „Multikulti ist Teil unserer Markenidentität.“
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