Der französische Comicautor Baru: Immer unterwegs

Baru verarbeitet seine Herkunft aus dem lothringischen Arbeitermilieu in seinen Comics. Er ist ein fabelhafter Chronist der Außenseiter und Unterschichten.

Direkte Leseransprache: Szene aus „Die Sputnik Jahre“. Bild: Reprodukt/Baru

„Ristretto“ – kurz und stark, bestellt Baru seinen Kaffee. Der 1947 als Hervé Barulea in Lothringen geborene Sohn eines italienischen Arbeiters ist stolz auf seine Wurzeln. Allerdings beherrscht er die Sprache seiner Vorfahren nur rudimentär, wie er bedauert: „Mein Vater hat nur wenig geredet. Wenn überhaupt, dann auf Französisch.“ Und obwohl die Industriesiedlung, in der Baru aufwuchs, zur Hälfte italienisch war, habe man sich beim Spielen auf der Straße mit den Kindern auch immer nur „in der Sprache der Schule“ verständigt.

Seine Kindheit im lothringischen Einwanderer- und Arbeitermilieu der 50er hat der Comiczeichner Baru in seinem zehnten Band „Die Sputnikjahre“ festgehalten. Die kindlichen Bandenkriege spielen vor dem Hintergrund einer einst imposanten Industrielandschaft und gewaltsam nahender Konflikte: Erste Arbeiterstreiks begleiten den sich unaufhaltsam anbahnenden Niedergang der Stahl- und Kohleindustrie; und auch der Algerienkrieg hinterlässt an den Wänden der bescheidenen Reihenhäuser seine Spuren.

Wie der zehnjährige Hauptprotagonist Igor hat Baru früher Vaillant gelesen: eine von der kommunistischen Partei initiierte Comiczeitschrift mit ihren Heldenpendants zum „reaktionären Tim“ und den amerikanischen Superheroes.

Der dringliche Wunsch, selbst zu zeichnen, überkam Baru Ende der 1960er Jahre. Damals gehört er in Frankreich zu den drei Prozent Arbeiterkindern, die es an die Uni geschafft haben. „Dafür habe ich den vollen Preis zahlen müssen“, erzählt er. „Ich habe mich für meine Herkunft, meine Eltern, meine billigen Hosen geschämt. Als ich dann aber verstand, dass ich eigentlich Opfer von Klassengewalt war, habe ich nur Wut empfunden“. So wird er bei der kommunistischen Partei vorstellig, doch die Kameraden schlagen ihm die Tür ins Gesicht: „Ich war Student, für sie also ein Klassenverräter.“

Diesen Text lesen Sie in der taz.am wochenende vom 8./9. Juni 2013. Darin außerdem: Die Titelgeschichte „Wo diskutiert man schlechter: Twitter oder Jauch?“. Der Tatort-Schauspieler Oliver Mommsen über seinen Bremer Kommissar Stedefreund und schräge Ermittler-Kollegen. Ein Gespräch mit der Humorforscherin Barbara Wild. Und: Warum eine indische Mutter ihre Tochter verhungern ließ. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Zu der Zeit liest Baru satirische Comic-Magazine wie Hara-Kiri oder Charlie Hebdo. So entdeckt er den Zeichner Jean-Marc Reiser und seinen derb subversiven Blick auf die französische Gesellschaft – und die Lösung seiner inneren Konflikte: „Papier und Stift, das kostet nichts, und so fing ich an, meine Sicht auf die Welt zu veranschaulichen.“

Pimmel Blues

Seinen ersten Band „Quéquette Blues“ (Pimmel Blues, noch nicht auf Deutsch erschienen) bezeichnet er als eine Identitätsfindung. Er erzählt von einer Rock’n’Roll-affinen Clique aus dem Arbeitermilieu der 60er. Ein kollektives Porträt, so Baru, mit der Aussage: „Schaut her, wir leben im Dreck, sind aber keine Gauner. Auch wir haben vor allem Mädchen im Kopf.“

„Talent ist eine Erfindung der Faulen“, sagt der Autodidakt mit einem breiten Lächeln. Baru ist 35 und Sportlehrer, als die Zeitschrift Pilote seine ersten Strips veröffentlicht; 37, als der erste Teil von „Quéquette Blues“ beim Dargaud Verlag erscheint. Dafür erntet er 1985 den Prix Alfred für das beste Debüt beim Comicfestival von Angoulême.

„Der Champion“, Barus Geschichte eines algerischen Profiboxers, der wegen seiner Herkunft zum Spielball zwischen algerischen Freiheitskämpfern und französischen Politikern wird, bekommt 1991 den Prix Alph’Art für das beste Album. Während Zeichner- und VerlagskollegInnen von Barus Stil „à la hâche“ – mit der Axt, wie er sagt – begeistert sind, wird er von der breiten Öffentlichkeit eher reserviert aufgenommen.

1995 erscheint dann „Autoroute du soleil“, das auf 140 Seiten ungewohnt ausführlich von der Flucht zweier Außenseiter vor rechtsextremen Brutalos erzählt. Der japanische Verlag Kodansha, damals an europäischen Newcomern interessiert, habe ihm jene Beinfreiheit zugestanden. Die Erfahrung bezeichnet Baru als seine Geburtsstunde als Autor. Denn endlich darf er sich zeichnerisch und erzählerisch austoben, seinen Stil festigen und seine Sichtweise jenseits formeller Einschränkungen auf den Punkt bringen.

Arbeitspensum eines Proleten

Zehn Stunden am Tag arbeitet er – auch heute noch. „Das entspricht fast dem Pensum eines Proleten“, so Baru, „außer dass man sich nicht schmutzig macht und auch nicht an Lungenkrebs sterben muss, wie mein Vater. Wobei ich beim Zeichnen teilweise rauche wie ein Schlot.“

Baru spricht schnell, fast atemlos, doch zugleich geschmeidig, ohne sich je zu verhaspeln. So sind auch seine Comics: in synkopische Bilder übersetzte Roadmovies, die sozial relevante Themen anreißen – von der Auflösung des Arbeitermilieus über den Aufstieg der französischen Rechtsextreme bis zum Unbehagen in den Banlieues. Das alles, ohne zu lehrmeistern. Immer stammen Barus Helden aus der Unterschicht und immer befinden sie sich auf der Flucht – eine Metapher für den sozialen Aufstieg und dessen persönliche wie kollektive Konsequenzen, die Baru stets hinterfragt.

„Autoroute du soleil“ markiert in seiner Heimat den endgültigen Durchbruch, und Baru kann seinen Job als Sportlehrer an den Nagel hängen. Auch in Deutschland sind die Fans zahlreich, wie sich zuletzt beim Comicfestival in München zeigte, wo sie bei Barus Signierstunde mit einem seiner beiden Neuerscheinungen unterm Arm Schlange standen.

Ein Konzert gerät aus dem Ruder: Szene aus „Wieder unterwegs“. Bild: Reprodukt/Baru

Das jetzt auf Deutsch erschienene „Wieder unterwegs“ verfasste Baru schon 1997. Die Hauptfigur André sieht ihm verdächtig ähnlich: weiße Haare, dezente Rock’n’Roller-Tolle, kurze schwarze Lederjacke. „Ich war ratlos, als es darum ging, André ein Gesicht zu geben. Also habe ich mich einfach selbst gezeichnet“, erzählt Baru. „Es geht ja um ein Porträt meiner Generation, die den Mai 68, den Rock ’n’ Roll, all die Umwälzungen der 60er und 70er als Befreiung erlebt hat – und sich mit 50 fragte: Was ist aus meinen Idealen geworden?“

Beim Kommentieren der Originalseiten seines Comics, die im Rahmen des Münchner Festivals ausgestellt wurden, klatscht Baru nebenher rhythmisch in die Hände. Er sei nicht nervös, er höre aber immer Musik beim Zeichnen: Canned Heats Song „On the Road again“ hat ihm auch den Titel für den Band gegeben.

Ausflug ins Grüne

Das auch in Frankreich dieses Jahr erschienene Werk „Bleierne Hitze“ scheint das exakte Gegenteil von „Wieder unterwegs“ zu sein und basiert auf Jean Vautrins gleichnamigem Roman noir. Adaptionen macht Baru zwar ungern, und wenn, nur aus Freundschaft, aber Vautrin sei ein alter Kumpel. Baru schwärmt über dessen Fähigkeit, die menschliche Seele zu durchforsten und offenzulegen, zu welchen Abscheulichkeiten sie fähig ist. „Wäre er ein Amerikaner, würden die Franzosen ihn zum Genie erklären.“ Die Geschichte von „Bleierne Hitze“ habe ihn interessiert, weil sie auf dem Land spielt.

„Ich dachte mir, ich drehe mal eine Runde in der Pampa. Die war für mich schon immer ein Mysterium.“ Nach dem Ausflug ins Grüne kehrt Baru aber wieder zu seinen Wurzeln zurück, und will die Porträttrilogie des Arbeitermilieus vervollständigen, die er mit „Quéquette Blues“ und „Die Sputnikjahre“ begann.

Eine Familiensaga soll es werden, die in den 20ern anfängt und die Immigration italienischer EinwandererInnen bis Ende der 70er nacherzählt. Obwohl die Integration heute als erfolgreich gilt, war die Zeit von Gewalt und Rassismus gezeichnet. Baru bleibt seinem Thema und den Lothringer Siedlungen und Sozialwohnungen treu.

Baru: „Wieder unterwegs“. Reprodukt, Berlin 2013. 104 Seiten, 20 Euro. „Bleierne Hitze“. Edition 52, 116 Seiten, 20 Euro. „Die Sputnikjahre“. Reprodukt, Berlin, 208 Seiten, 29 Euro.

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