Deutsche Bildungslandschaft: Politik interpretiert Bildungsbericht um

Den Kultusministern passen die schlechten Zeugnisse weiterhin nicht: Sie bezeichnen das Benennen der Probleme als Grenzüberschreitung.

Wie fallen diese Kinder im Bildungsbericht wohl aus? Bild: dpa

BERLIN dpa/taz | Der Hauptkritiker fehlte bei der Präsentation des neuen Nationalen Bildungsberichts in der Runde der Kultusminister. Bayerns Bildungsminister Ludwig Spaenle (CSU), der die Wissenschaftler wegen ihrer Warnung vor dem Betreuungsgeld so heftig gerügt und von einer Art Grenzüberschreitung gesprochen hatte, ließ sich entschuldigen. Den Part des scharfen Kritikers musste sein Amtschef Peter Müller übernehmen.

Bevor die Journalisten dann zur öffentlichen Präsentation zugelassen wurden, diskutierten die Minister hinter verschlossenen Türen zusammen mit den Wissenschaftlern fast eine Stunde lang die Frage, was diese in einen offiziellen Bildungsbericht von Bund und Ländern schreiben dürfen – und was nicht: Probleme aufzeigen: Ja. Empfehlungen abgeben: Nein. So sieht es allerdings auch der Vertrag von Bund und Ländern vor, der schon 2005 über den alle zwei Jahre erscheinenden Bildungsbericht geschlossen wurde.

Dabei demonstrierten in der bisweilen heftigen Debatte unter den Kultusministern die Vertreter der ostdeutschen Länder, wie man souverän mit Aussagen der Wissenschaft umgehen kann.

Die Forscher des 4. Nationalen Bildungsberichts benennen zentrale Fragen:

1. „Zahl der Bildungseinrichtungen in Freier Trägerschaft ist in den letzten 12 Jahren um 25 % gestiegen, während die öffentlicher Einrichtungen um 10 % zurückging.“

2. „Der U3-Ausbau (Kitaplätze) muss massiv beschleunigt werden, damit der 2013 in Kraft tretende Rechtsanspruch erfüllt werden kann.“ Es fehlen 175.000 Kitaplätze und 12.400 Fachkräfte.

3. „Die Hälfte der Lehrkräfte sind über 50 Jahre alt. Den Ersatzbedarf qualitativ und quantitativ zu sichern wird keine leichte dauerhafte Aufgabe der Politik sein.“

4. „Die Erhöhung der Integrationsquote seit 2000 … bewirkte keinen Rückgang des Anteils der Förderschüler.“

Der kritische Hinweis im Bildungsbericht auf die vielen Gründungen privater Grundschulen im Osten in den vergangenen Jahren und die damit verbundene Grundgesetzproblematik, die ihren Ursprung bereits in der Weimarer Reichsverfassung hat, gefiel den betroffenen Ostministern zwar nicht. Doch deswegen stelle man nicht gleich die gesamte Arbeit der Bildungsforscher infrage, merkte der Brandenburger Vertreter an.

Finger in die Wunde

Dabei sind die Grenzen zwischen dem Aufzeigen von Fakten, dem Einordnen in Gesamtzusammenhänge und dem Benennen von Herausforderungen in vielen Gutachten und wissenschaftlichen Berichten fließend. Ist es schon eine politische Aussage, wenn die Autoren des Bildungsberichts nicht nur die steigenden Abiturienten- und Studienanfängerzahlen als Erfolg herausstellen – sondern zugleich auch auf die immer noch mangelnde Akzeptanz der neuen Bachelor-Abschlüsse bei den jungen Menschen verweisen?

Oder wenn sie gleich den Finger in die große Wunde des deutschen Bildungssystems legen, dass auch zehn Jahre nach dem Pisa-Schock noch immer fast 20 Prozent der 15-Jährigen nicht richtig lesen und Texte verstehen können? Oder dass nach wie vor die soziale Herkunft in Deutschland über Bildungserfolg entscheidet?

In der Tat kommt das heikle Wort Betreuungsgeld nur in einem, aber eben brisanten Satz des Bildungsberichtes vor. Gewarnt wird, dass der Staat angesichts der noch nicht vollendeten Aufgabe Kita-Ausbau sich nicht mit neuen Leistungen wie dem Betreuungsgeld finanziell übernehmen soll. Nicht zuletzt steht ja auch im frühkindlichen Bereich noch die Mammutaufgabe Inklusion bevor – die Öffnung von Kitas und Kindergärten für Kinder mit Handikaps – so wie es die UN-Konvention nicht nur von Schulen verlangt.

Durchgängig ist im Bericht die Sorge über eine soziale Teilung bei der Kita-Betreuung der unter Dreijährigen. Durch Anreize für die Eltern sollten nicht gerade die Kinder vom Kita-Besuch abgehalten werden, die frühkindliche Bildung und Sprachübungen besonders nötig haben. Fazit: Mehr Kinder aus bildungsfernen Schichten sollen in die Kita – und nicht weniger.

Macht der Fakten

Das Verhältnis zwischen Politik und beratender Wissenschaft war immer schon ambivalent – auch weil die Politik die Deutungshoheit nicht so leicht aus der Hand geben will. 1963, bei Einsetzung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wurde sogar im Gesetz festgelegt, dass die Wissenschaftler zwar Zahlen und Fakten liefern, aber keine Empfehlungen abgeben sollen. Doch selbstverständlich reichern heute die Wirtschaftsweisen ihre Gutachten stets mit Empfehlungen an.

Der Leiter der Bildungsbericht-Autorengruppe, Horst Weishaupt, gilt als ein ruhiger und besonnener Wissenschaftler, nicht als Alarmist. „Wir wollen nicht der Politik vorschreiben, was richtig ist. Wir setzen auf die Macht und Kraft der Fakten“, sagen Weishaupt wie auch sein Mitautor Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut. Der Sozialwissenschaftler Martin Baethge ergänzt: „Die Politik muss die Entscheidungen legitimieren, nicht die Wissenschaft.“ Baethge, ein Mann klarer Aussagen, sieht durch die bayerischen Aufgeregtheiten ums Betreuungsgeld den Freiheitsspielraum der Forschung nicht infrage gestellt.

Dabei hatte es Eingriffe der Bildungspolitik in Gutachten oder Stellungnahmen der Wissenschaft schon häufig gegeben. So erinnert sich mancher in der KMK daran, wie 2003 auf Druck von Annette Schavan – damals CDU-Kultusministerin in Baden-Württemberg – ganze Passagen und Warnungen vor einer akademischen Fachkräftelücke wieder aus einem ersten Länderbildungsbericht gestrichen wurden. Die Entwicklung hat der Bildungsforschung längst recht gegeben. Noch heute kursieren in der Szene etwa ein halbes Dutzend unzensierter Exemplare.

Oder der Fall Andreas Schleicher: Einige Kultusminister hätten den gern als „Mister Miesmacher“ titulierten Pariser OECD-Bildungskoordinator und Pisa-Erfinder wegen seiner beharrlichen Kritik am deutschen Bildungssystem am liebsten Einreiseverbot erteilt, heißt es spöttelnd in der Kultusministerszene. Und aus der Hochschulforschung hört man in jüngster Zeit häufiger Klagen, dass nicht genehme HIS-Ergebnisse in offiziellen Pressemitteilungen umgedeutet werden.

Schwerpunkt im Lebenslauf

Für den Bildungsbericht 2012 hätten die Wissenschaftler am liebsten das Thema Inklusion wegen seiner beharrlichen Kritik am deutschen Bildungssystem zum Schwerpunkt gemacht. Doch weil die Länder sich bei der Umsetzung der UN-Konvention schwertun, soll das Thema Inklusion erst im Jahr 2014 folgen.

Stattdessen gab es diesmal den Schwerpunkt „Kulturell/musisch-ästhetische Bildung im Lebenslauf“. Den nahmen die Kultusminister wohlwollend zur Kenntnis – da gab’s ja auch lauter Nachrichten in Moll.

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