Deutsche Israel-Politik: Auf das Versagen muss Einsicht folgen
Gaza lehrt: Die deutsche Israel-Politik ist gescheitert. Ein Neustart muss historische Verantwortung und Völkerrecht in Einklang bringen.
G aza sei ein Laboratorium, wie die Welt aussähe ohne internationales Recht. So formulierte es der französische Historiker Jean-Pierre Filiu, nachdem er im vergangenen Winter für einen Monat Augenzeuge des Horrors war. Trumps Diktatfrieden verzichtet gleichfalls auf jeglichen Rechtsgedanken, und von Wiederaufbau wird nun in einem Ton gesprochen, als sei Gaza ein Erdbebengebiet und kein Tatort schlimmster Kriegsverbrechen. Genozid? Schwamm drüber. Wird Gaza also erneut zum Labor – wie Macht, Deals und Geld das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Freiheit ersticken?
Dazu darf es nicht kommen. Jetzt müssen sich Forensiker ans Werk machen und Experten für die Befragung traumatisierter Menschen. Es muss Rechenschaftspflicht geben für die Vergehen der Hamas wie für die israelischen. Vieles wurde bereits digital dokumentiert, etwa, wo Journalisten und Ärzte getötet wurden. Die grauen Schutthalden von Gaza bergen unzählige Leichen ebenso wie DNA-Spuren der Wahrheit, und ein beträchtlicher Teil der Menschheit erwartet, dass mit beidem respektvoll umgegangen wird.
Denn der Trump’sche Diktatfrieden spiegelt auf doppelte Weise eine sich verändernde Welt: den Aufstieg bizarrer Autokraten ebenso wie die Wirkung einer globalen Protestbewegung. Trump hat die Reißleine gezogen, um Israel zu retten, es vor sich selbst zu retten in einem Moment, da das Land international so isoliert ist wie nie zuvor. „Israel cannot fight the whole world“, soll Trump zu Netanjahu gesagt haben.
Was bedeutet dies alles nun also für Deutschland und den überfälligen Neustart seiner gescheiterten Nahost-Politik? Zunächst ist intellektuelle Klarheit nötig. Israel bleibt zwar historisch betrachtet ein Staat der Opfer – rund ein Drittel der Staatsgründer waren Überlebende der Shoah –, aber für Israels Verbrechen in der Gegenwart darf es nicht länger einen Opferbonus geben. Dies zu konstatieren ist keine Relativierung des Ursprungsgeschehens, des Holocaust, und vermindert um kein Jota unsere Pflicht, das Holocaust-Gedenken wach zu halten. Doch es ist an der Zeit, historische Verantwortung und Völkerrecht in Einklang zu bringen.
Ob an ihren Händen Blut klebt
Die apokalyptischen Bilder aus Gaza erzwingen die Einsicht, wie desaströs die deutsche Israelpolitik auf Grund gelaufen ist. Gescheitert die Illusion, durch beflissene Nähe und beschönigende Diplomatie Einfluss auf Israels Regierung auszuüben. Stattdessen hat sich Deutschland durch Waffenlieferungen zum Gehilfen eines mutmaßlichen Genozids gemacht, ist jedenfalls seiner Verpflichtung als Unterzeichner der Konvention zur Verhütung eines Völkermords in keiner Weise nachgekommen.
Damit haben die Regierungen von Olaf Scholz und Friedrich Merz obendrein die Verfassung verletzt, denn das Grundgesetz verpflichtet in Artikel 25 zum Einsatz für internationales Recht – der Passus war eine Lehre aus dem Nationalsozialismus. Doch geht es hier nicht um abstrakte Rechtsgüter. So wie der zögerliche Joe Biden müssen sich auch deutsche Politiker fragen, ob an ihren Händen das Blut palästinensischer Kinder klebt.
Die Lehren aus der Shoah bedeuten eine partikulare Verantwortung gegenüber jüdischen Menschen und einen universellen Einsatz für Völkerstrafrecht und Menschenrechte. Beides muss im Einklang stehen, auch im Verhältnis zu Israel. Und aus der Geschichte folgt gleichfalls eine Mitverantwortung für das Schicksal der Palästinenser. Diese Prinzipien sind der Kompass, nach dem sich eine neue deutsche Nahost-Politik ausrichten muss. Das verlangt, sich von überholten Israelbildern aus den 1990er Jahren zu lösen. Rechtsradikales Gedankengut ist nicht auf ein paar Minister beschränkt, sondern weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.
Drei Viertel der jüdischen Israelis sind laut Umfragen des Instituts for National Security Studies in Tel Aviv gegen einen palästinensischen Staat – das bedeutet, die Mehrheitsgesellschaft ist derzeit leider kein Partner für eine Politik, die palästinensische Selbstbestimmung respektiert. Und viele Israelis sind weiterhin davon überzeugt, dass der historische Opferstatus ihrem Land das Recht gibt, Dinge zu tun, die keinem anderen Land erlaubt sind. Wer widerspricht, ist antisemitisch, bis hin zu den Vereinten Nationen und jenen Institutionen, die einst nach „Nürnberg“ geschaffen wurden. Dieser Wahn hat Israel an den Punkt gebracht, wo es heute ist.
Nur eine Frage der Zeit
Unsere Wertepartner aber sind jene Menschen in Israel, die verzweifelt die Stimme erhoben haben gegen den Horror von Gaza und die sich dabei fühlten, so beschrieb es der Anwalt Michael Sfard, als lebten sie inmitten einer kriminellen Familie. Deutschlands Freunde können nur die Gegner von Unrechtspolitik, Besatzung und Unterdrückung sein. Eine Minderheit, gewiss, aber im Wortsinn maßgebend.
Zum Labor der Rechtlosigkeit verkommt gleichfalls das Westjordanland. In diesen Tagen wurden Bauern sogar bei der Olivenernte von Siedlern blutig attackiert. Mehr als 1.000 Palästinenser wurden in den vergangenen zwei Jahren durch Armee und Siedler getötet, ohne Folgen. Es ist eine Frage der Zeit, bis das Westjordanland in Wut explodiert.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Der Internationale Gerichtshof verlangt längst, alles zu unterlassen, was die illegale Besetzung aufrechterhält. Also keine deutschen Rüstungsgüter an den Besatzungsstaat und ein EU-Importverbot für Siedlungsprodukte – das sind einfache erste Schritte. Mehr müssen folgen. Ohne Druck von außen auf Israel ist auch die diplomatische Anerkennung eines „Staats Palästina“ wertloses Papier.
Der weitere Weg nach vorn? Palästinensische Gleichberechtigung und jüdische Sicherheit sind untrennbar verbunden. Das heißt: Israelis werden nur sicher leben, wenn Palästinenser in Freiheit leben können. Wer auf der Straße „Free Palestine“ ruft, schützt jüdisches Leben in Israel also womöglich mehr, als es eine fehlgeleitete deutsche Nahostpolitik getan hat.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert