Dialog zwischen Kunst und Natur: Bohnenranke in die Unendlichkeit

Wie verwoben sind Kunst und Natur? Dem geht Reto Pulfer mit raumgreifenden Skulpturen nach, die im Kunsthaus Potsdam zu sehen sind.

Detail aus einer Arbeit mit pflanzengefärbten und überzeichneten Stoffen von Reto Pulfer

Detail aus Reto Pulfer, „mm zu r wird glückstor“, 2022, Buntstift auf Stoff Foto: Dajana Lothert

Der Schweizer Künstler Reto Pulfer hat in den letzten Jahren große Hallen bespielt, zum Beispiel auf der Liverpool Biennal oder im Genfer Centre d’Art Contemporain. Er füllt sie mit Sound, Skulpturen, Performances und, allem voran, mit Textilkunst. Aufgespannte Tücher in spritzig-lebendigen Farben bilden Segel, Höhlen und Gänge, in denen die Besucherinnen wandeln oder verweilen.

Nun hat der Wahluckermarker das Kunsthaus Potsdam einem „Blitzzzustand“ unterzogen – so der Titel der aktuellen Ausstellung. Im Gegensatz zu früheren Locations muss das Kunsthaus eine Herausforderung gewesen sein. Die Galerie befindet sich in einem idyllischen, postindustriellen Hinterhof und ist hell und einladend. Aber die Ausstellungsräume sind nicht nur klein, sondern auch maisonetteartig verwinkelt. Pulfer geht in die Offensive und drapiert ein Tor aus buntem Patchwork-Stoff direkt hinterm Eingang, sodass das Eintreten unwillkürlich zu einem bewussten Akt wird und der Raum zu einem Erfahrungsort.

Diese Sinneseindrücke schärfen den Geist und entschleunigen ihn zugleich

Es duftet hier intensiv nach frischem Heu. In transparenten Netzen liegen die Ballen auf dem Boden oder hängen von der Decke. Geräusche und eine Art schamanischer Gesang erfüllen den Raum. Als würden diese Sinneseindrücke den Geist schärfen und gleichzeitig entschleunigen, beginnt eine behutsame Entdeckungsreise.

Detaillierte Beobachtung

Die Ausstellung funktioniert auf mehreren Ebenen. Während die expressive Textilkunst den ersten Eindruck dominiert, laden Zeichnungen auf Holz und feine Webereien zu detaillierteren Beobachtungen ein. Stiefmütterchen, Regenwürmer und Kraniche bildet Pulfer mit intuitivem Sinn für Anatomie ab, belässt sie jedoch so simpel und konturhaft, dass ihre Grundlinien stärker hervortreten und so eine in ihrer Natur bereits angelegte Ornamenthaftigkeit zur Geltung kommt.

Diese Linien rotiert und spiegelt Pulfer, sodass Muster entstehen. Einige wirken wie Entwürfe aus dem Grafikstudium, andere wie jahrhundertealte Folklore.

An einer Wand lehnen Bohnenstangen, an denen alte, verholzte Ranken als Helix emporklettern. Um eine von ihnen hat Pulfer einen weiteren Streifen gebunden, der mit einem blauen Wellenmuster bestickt ist. Durch diese einfache Inszenierung wird ein Phänomen aus dem Bereich der Natur und der Landwirtschaft plötzlich zu einer Kunstform, die ein so abstraktes Konzept wie die Unendlichkeit momenthaft greifbar macht.

Wo eben noch die Sinne erkundeten, öffnen sich nun philosophische Fragen: Macht es überhaupt Sinn, zwischen Kunst und Natur zu unterscheiden, wenn doch beides so schön ist und zum Nachdenken anregt? Anstatt in eine naive oder esoterische Richtung zu verfallen oder zu behaupten, es sei alles gleich, spielt Reto Pulfer kritisch mit den Grenzen.

Die Materialien spiegeln keinen verklärten Blick auf die Natur, sondern einen mitunter materialistischen Diskurs. Das meiste ist gefunden oder recycelt, Industriefilz und Heuballen treten in direkten Austausch mit solchen Objekten, die gemeinhin als Kunst erkennbar sind, und solchen, die als pure Natur gelten.

Gleichgewichte zu finden

Poetische, theoretische und humoreske Texte deuten wiederum auf eine unüberbrückbare Trennung zwischen uns und anderen Lebewesen hin. Auf einem Tuchgemälde unterhalten sich einzelne Blätter aus einer Ornamentkette über Sprechblasen. Ein lächelndes und umgedrehtes Blatt sagt: „Upside down doesn’t matter to me.“ Das Nachbarblatt macht ein trauriges Gesicht und entgegnet schlicht: „Fuck you.“

Reto Pulfer: Blitzzzustand, bis 21. August, KunstVerein Kunsthaus Potsdam, Ulanenweg 9, Mi.–So., 12–17 Uhr

Pulfers Figuren und Narrative sind unprätentiös und behandeln die ihn umgebenden „Lebedinge“ – wie es in seinem psychedelisch angehauchten Naturroman „Gina“ heißt – mit einer Mischung aus Demut und Witz. Er scheint darauf bedacht, Gleichgewichte zu finden und dem Publikum etwas mitzugeben, was nicht nur die Ausstellungsräume betrifft, sondern auch die Wahrnehmung der alltäglichen Umwelt.

Es geht um einen Dialog, der trotz unüberbrückbarer Grenzen permanent zwischen uns und der scheinbar außerhalb liegenden Natur stattfinden kann und sollte. In diesem Sinne kann Pulfers Kunst als kritische Anthropozänkunst gelten und ein Besuch seines „Blitzzzustandes“ wird unbedingt empfohlen.

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