Die „Engineers of Jihad“: Islamist + Ingenieur = Terrorist?

Unter den islamistischen Terroristen befinden sich auffällig viele Ingenieure. Zwei Wissenschaftler versuchen, dieses Phänomen zu erklären.

Ein brennender Turm des World Trade Center in New York am 11. September 2001

Ein Werk von Ingenieuren: 9/11 Foto: dpa

Terroristische Anschläge scheinen in der Öffentlichkeit den Reflex auszulösen, sich die religiöse Sozialisation, die Bildungswege, die Berufstätigkeiten, die kriminellen Karrieren, den Familienhintergrund, die sexuellen Präferenzen, die psychiatrischen Krankengeschichten, die Gewohnheiten in puncto Drogenkonsum oder Computerspielfrequenz der Attentäter anzusehen – wohl in der Hoffnung, über die Verortung der Attentäter in der Sozialstruktur Aufklärung über ihre Motive zu erhalten und somit zukünftig Anschläge von Personen mit ähnlichen sozialstrukturellen Merkmalen verhindern zu können.

Je nach Blickwinkel geraten dann unterschiedliche Merkmale in den Mittelpunkt. Während es wenig verwunderlich ist, dass der überwiegende Anteil islamistischer, hinduistischer oder evangelikaler Attentäter einen starken religiösen Hintergrund hat, fallen andere soziostrukturelle Merkmale wie der hohe Prozentsatz von Kleinkriminellen unter den islamistischen Attentätern in Belgien und Frankreich oder der hohe Anteil von Personen mit psychischen Störungen unter terroristischen Einzeltätern auf.

Der Soziologe Diego Gambetta und der Politikwissenschaftler Steffen Hertog haben jetzt ein ganzes Buch einem einzigen soziostrukturellen Merkmal islamistischer Terroristen gewidmet, das bereits nach den Anschlägen vom 11. September 2001 aufgefallen war – dem hohen Anteil von Ingenieuren unter den Attentätern.

Acht der fünfundzwanzig an den Anschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center beteiligten Terroristen waren Ingenieure. Aber auch der Nigerianer Abdulmutallab, der im Jahr 2009 versuchte, eine Maschine der Northwest Airlines auf dem Flug nach Detroit in die Luft zu jagen, sowie der Libanese Mohamed Game, der sich wenige Monate zuvor vor einer Kaserne in Mailand in die Luft sprengte, waren von der Ausbildung her Ingenieure.

Mittels einer aufwändigen statistischen Erhebung weisen Gambetta und Hertog nach, dass der Anteil der Ingenieure unter den islamistischen Terroristen vierzehnmal höher ist, als man es beim Blick auf die erwachsene männliche Bevölkerung in ihren jeweiligen Herkunftsländern erwarten würde.

Enttäuschte Aufstiegshoffnungen

Dabei gelingt es den beiden Wissenschaftlern, diesen vergleichsweise hohen Anteil von Ingenieuren unter den islamistischen Terroristen für vier weitgehend voneinander isoliert agierende regionale Cluster in Südostasien, Nordafrika, Arabien und Palästina aufzuzeigen. Zwischen den Ingenieurwissenschaften auf der einen Seite und dem Extremismus auf der anderen Seite bestehe, so formulieren es Gambetta und Hertog in einem etwas schrägen Bild, demnach offensichtlich eine „Liebesbeziehung“. Wie aber lässt sich diese überraschende Kopplung erklären?

Diego Gambetta und Steffen Hertog: „Engineers of Jihad. The curious connection between violent extremism and education“. Princeton University Press 2016, 192 S., 24,95 Euro

Diego Gambetta und Steffen Hertog nutzen zur Begründung ihrer These eine – wie sie selbst sagen – leicht angestaubte soziologische Theorie: den Ansatz von der relativen Deprivation. Dieser Ansatz erklärt politisches Engagement im Allgemeinen und Bereitschaft zu terroristischen Aktivitäten im Besonderen mit nicht erfüllten Aufstiegshoffnungen.

Nicht die Armut an sich führe also zu politischem Engagement, sondern enttäuschte Aufstiegshoffnungen. Islamistische Bewegungen und ganz besonders islamistische Terrorgruppen seien, so lautet die These von Gambetta und Hertog, zum Fluchtpunkt für jene Hochschulabsolventen geworden, deren Aufstiegshoffnungen aufgrund der ökonomisch prekären Lage in ihren Herkunftsländern enttäuscht wurden.

Aber Diego Gambetta und Steffen Hertog vertrauen der Theorie von der relativen Deprivation zur Erklärung des hohen Anteils von Ingenieuren unter den islamistischen Terroristen nicht vollständig. Zu auffällig sind auch für sie die Lücken dieser Theorie: Wie lässt sich mit diesem Ansatz erklären, dass sich unter den islamistischen Terroristen auch überproportional viele Ingenieure finden, die in Europa studiert und gearbeitet haben? Versagt angesichts der guten Karrierechancen in westlichen Unternehmen nicht gerade bei ihnen der Ansatz von der relativen Deprivation?

Theorie der „terroristischen Persönlichkeit“

Gefüllt wird diese Erklärungslücke von den beiden Terrorismusforschern mit einer schnell hingeworfenen Theorie der „terroristischen Persönlichkeit“. Ingenieure würden sich demnach durch die Vision einer eindeutigen sozialen Ordnung in Kombination mit stark regulierten alltäglichen Routinen besonders angezogen fühlen. Und die Ideologie, die dieses Bedürfnis besonders gut erfüllen könnte, sei – abgesehen von rechtsradikalen Gruppen – insbesondere bei islamistischen Gruppierungen zu finden.

Dieser Ansatz erinnert an Theodor Adornos Theorie der autoritären Persönlichkeit, in der es darum ging, das „Faschismuspotenzial“ auf die in bestimmten Bevölkerungsgruppen verbreitete Autoritätshörigkeit zurückzuführen.

Während Adorno aber noch davon ausging, dass Wertkonservativität, Autoritätshörigkeit und Feindseligkeit gegen andere Menschen ansozialisiert würden, halten Gambetta und Hertog es nicht für ausgeschlossen, dass die Neigung für politische Haltungen genetisch vererbt wird.

Blinder Fleck

Der von Gambetta und Hertog vertretene Ansatz hat einen blinden Fleck. Es mag zwar sein, dass der Anteil von Personen mit enttäuschten Aufstiegsambitionen in einer Protestbewegung besonders hoch ist, aber zugleich fällt auf, wie viele Personen mit enttäuschten Karriereambitionen sich nicht radikalisiert haben. So mag zwar ins Auge stechen, dass der Anteil von Ingenieuren unter den islamistischen Terroristen hoch ist, aber trotzdem ist nicht zu übersehen, dass ein Großteil der aus arabischen und nordafrikanischen Staaten stammenden Ingenieure nicht zu islamistischen Terroristen wurde.

Selbstverständlich sind soziostrukturelle Merkmale für die Frage, ob jemand zum Terroristen wird, relevant. Die meisten islamistischen, aber auch die meisten rechtsextremen Terroristen sind Männer, während der linksextreme Terrorismus – jedenfalls in Deutschland – die Erwartungen auf die Gleichstellung von Mann und Frau schon weitgehend erfüllt.

Ein gemeinsames Merkmal von religiösen Extremisten wiederum ist ein vergleichsweise hoher Anteil von Jugendlichen unter den Gewalttätern, während der Anteil von Senioren bei den Extremisten, die zu Steinen, Messern oder Kalaschnikows greifen, vergleichsweise gering ist.

Soziostrukturelle Merkmale erklären wenig

Allein für sich genommen erklären diese soziostrukturellen Merkmale jedoch vergleichsweise wenig. Interessanter ist, in welchen sozialen Formationen sich die Neigung zu terroristischen Aktivitäten ausbilden kann.

So fällt bei den islamistischen Terroristen in Belgien und Frankreich auf, dass die Radikalisierung innerhalb von Familien abgelaufen ist. Bei den salafistischen Extremisten in Deutschland spielt sich die Radikalisierung häufig in Freundesgruppen ab, die für ihre Mitglieder immer mehr zum zentralen sozialen Bezugspunkt werden. In terroristischen Organisationen sind wiederum Personen mit sehr heterogenen Ausbildungen und Motiven engagiert.

Erst wenn man die Funktionsweise dieser unterschiedlichen sozialen Formationen von Terroristen in den Blick nimmt, begreift man, warum bei den Linksextremen so viele Sozial- und Geisteswissenschaftler vertreten sind oder bei den Islamisten so viele Ingenieure.

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ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Von ihm erschien zuletzt „Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust“ (Suhrkamp 2014).

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