Die Kanzlerin und die Bundestagswahl: Endet der Merkelismus?

Das Kanzleramt ist ihr kaum zu nehmen. Bröckelt nach dem Wahlergebnis Angela Merkels Unbesiegbarkeitsmythos?

Angela Merkel zwischen Mikrofonen

Ist das der Anfang vom politischen Ende der CDU-Vorsitzenden? Foto: reuters

Ja

Noch bis zum Sonntagabend, 18 Uhr, hätte man Merkels Flüchtlingspolitik von Ende 2015 für das erfolgreichste Beispiel des Merkelismus halten können. Also jener Politik, das linke Lager zu demobilisieren, indem man die Union nach links rückt. Eine unkontrollierte Einreise von Hunderttausenden Flüchtlingen hätten SPD, Grüne und Linkspartei kaum beschlossen, wenn sie gemeinsam eine Regierung gestellt hätten, weil zumindest die SPD um ihre Mehrheitsfähigkeit gefürchtet hätte.

Aber sobald Merkel die Aufnahme der Flüchtlinge einmal verkündet hatte, sahen sich die drei Parteien (die Grünen stärker, SPD und Linkspartei schwankend) genötigt, diese Politik zu verteidigen – und zwar auch noch zu einem Zeitpunkt, als Merkel selbst wieder einen anderen Kurs einschlug. Während die Kanzlerin laut Umfragen darauf hoffen konnte, die Gegner und Befürworter ihrer Flüchtlingspolitik gleichermaßen zur CDU-Wahl zu mobilisieren, verlor das rot-rot-grüne Lager die Gegner der Flüchtlingspolitik innerhalb der eigenen Wählerschaft an die AfD.

Seit Sonntag ist nun klar: Auch Merkels Union hat Einbußen wegen der Flüchtlingspolitik. Die Merkel, die stets ihre Koalitionspartner zerrupft hinterlässt, selbst aber unbeschadet davonkommt, ist Geschichte. Der unterlassenen Grenzschließung vom September 2015 mag eine einzelne Fehleinschätzung Merkels zugrunde liegen, sie beschädigt jetzt aber langfristig ihre Fähigkeiten zu einer liberalen gesellschaftlichen Strategie.

Fortan regiert in Bayern eine CSU, die geradezu panisch den Machtverlust bei den Landtagswahlen 2018 fürchtet. Seehofers bisherige Strategie des kontrollierten Krawalls mit der Schwesterpartei, der rechtzeitig vor den Wahlen in eine Versöhnung mündete, ist gescheitert. Fortan hat er die Wahl zwischen noch mehr Krawall und dem totalen Bruch. Eine Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU und der Ausstieg aus Jamaika etwa kurz vor den Landtagswahlen mag wenig wahrscheinlich sein, die fortgesetzte Drohung damit dürfte Jamaika aber begleiten.

Zumindest bis zur Landtagswahl, wahrscheinlich aber auch darüber hinaus: Die CSU ist bei dieser Wahl bundesweit von 7,4 auf 6,2 Prozent gefallen. Verliert sie in Bayern weiter Richtung 30 Prozent, droht ihr das bundesweite Scheitern an der 5-Prozent-Hürde. Daran kann die CDU kein Interesse haben. Will Merkel der Schwesterpartei (und damit auch der CDU) helfen, kann sie weder im sozialen Bereich noch gesellschaftspolitisch allzu linksliberal blinken.

Dann ist da die FDP, die aus der Legislaturperiode 2009–2013 gelernt hat, sich nie wieder unter Wert zu verkaufen. Sie dürfte den Radius der Grünen in der Jamaika-Koalition in der Umwelt- und Sozialpolitik begrenzen und damit auch Merkels Radius, dem grünen Spektrum zu gefallen. Und schließlich ist da die CDU selbst: Bei dieser Wahl haben sich die Kollateralschäden des Wilderns im linken Spektrum gezeigt. Der Preis ist das Entstehen einer unappetitlichen rechtspopulistischen Partei.

Vermeidet es die AfD, sich so schnell zu zerlegen wie etwa die „Republikaner“, müssen die 12,6 Prozent vom Sonntag nicht der Höhepunkt gewesen sein. Will die CDU einen Teil der Wähler zurückholen, muss sie ihnen etwas anbieten, was Linken und Linksliberalen nicht gefallen wird. Das wiederum wird den Jens Spahns der CDU Auftrieb verleihen und die Peter Altmaiers einschränken.

Merkels Spielraum, zu moderieren und offene Auseinandersetzungen zu vermeiden, ist künftig also ebenso deutlich kleiner wie ihre Fähigkeit, nach links zu blinken. Die Kenntlichkeit der politischen Lager wird wieder geschärft, der Zustrom der Wechselwähler von SPD und Grünen zur CDU geringer werden. Und deshalb hat dieser Wahlsonntag etwas Gutes: Die Union wird als konservative Partei wieder kenntlicher werden. Angela Merkel hat Deutschland sediert und dem Land die Lust am politischen Streit ausgetrieben. Das ist nun vorbei. Fast, aber auch nur fast, müsste man der AfD dafür danken. MARTIN REEH

***

Nein

Jetzt gibt es wieder ganz viel Ende. Ende der Konsens-Republik, stattdessen ein fragmentiertes Siebenparteienparlament. Auch dem Modell Merkel, der Öffnung der Konservativen zur Mitte hin, wird der Untergang prophezeit, weil zum ersten Mal seit den 50er Jahren Rechtsextreme im Bundestag sitzen. Und die Volksparteien gehen auch mal wieder ihrem Finale entgegen. Hat eigentlich jemand mitgezählt, zum wievielten Mal in den Kommentarspalten das endgültige Aus der Volksparteien eingeläutet wird?

Das ist zu viel Ende. Die Große Koalition hat Fliehkräfte freisetzt – das ist allerdings nicht besonders überraschend. 2009 profitierten davon FDP und Linkspartei. Diesmal waren es FDP und erschreckenderweise die AfD. Die Imprägnierungsschicht gegen Rechtsextreme durch die NS-Geschichtsaufarbeitung ist gerissen. Das ist dramatisch – aber es ist nicht das Ende des bundesrepublikanischen Modells. Und auch nicht das Ende der Orientierung der Union Richtung Mitte.

Die Konsens-Republik ist am Sonntag jedenfalls nicht untergegangen. Der Föderalismus wird auch weiterhin dafür sorgen, dass hierzulande via Vermittlungsausschuss de facto eine meist unsichtbare Allparteienregierung am Werk ist. Das Modell Merkel ist der perfekte Ausdruck der Ausrichtung auf die Mitte, die hierzulande nicht nur mental, sondern auch im System der checks and balances tief verwurzelt ist.

Merkel, die Technokratie mit menschlichem Antlitz, hat das Post­ideologische nicht erfunden – sie verkörpert das Prinzip des Sowohl-als-auch nur gekonnter als die Konkurrenz bei der SPD. Falls es der Union also gelingt, ein Bündnis mit FDP und Grünen zu schmieden, wird uns das Politikmodell Merkel’scher Provenienz erhalten bleiben.

Diese Regierungsbildung wird ein komplexes Geschäft. Die Grünen sind willig und auch mit einer soliden Leidensfähigkeit ausgerüstet, brauchen aber in ihren Kernbereichen Klima und Agrar Erfolge. Die wird ihr die Lindner-FDP nur gewähren, wenn sie selbst bei Steuern, Wirtschaft, Euro Vorzeigbares bekommt. Der Kompromiss zwischen CSU und Grünen in der Flüchtlingspolitik wird ein von Nebelkerzen umranktes Meisterwerk der Unverbindlichkeit.

Dieses Machtmobile kann nur die liberale CDU in Balance bringen und halten. Gerade in einer heiklen, in Deutschland unüblichen Dreierkonstellation ist jene leidenschaftslose Machtausübung gefragt, die Merkel und ihre Entourage zu einer gewissen Perfektion gebracht haben. In der Disziplin, präpotente Machtmänner wie Lindner und Seehofer sanft auszubremsen, ist Merkel jedenfalls unerreicht.

Das ausgleichende, steuernde Zentrum der Jamaika-Regierung wird die CDU sein. Sie wird den Marktradikalismus und die Euro­skepsis der FDP, die Populismusschübe der CSU, den ohnehin nur noch gelegentlich aufflackernden Idealismus der Grünen einhegen, formatieren, ausgleichen. Wolkige Formelkompromisse finden – dieses Handwerk beherrschen Merkel und Altmaier routiniert. Die Union wird bei Migration und Flüchtlingen mehr auf Sicherheit und Abschottung setzen. Aber das ist kein Reißschwenk, sondern die trostlose Fortsetzung dessen, was die Union schon seit 2016 tut.

Auch die wuchtigen Thesen vom nahen Ende der Volksparteien CDU und CSU sollte man mit Vorsicht genießen. Ein Drittel der FDP-Wähler mögen eigentlich die Union lieber. Fast zwei Drittel der AfD-Wähler haben aus Enttäuschung über CDU/CSU, SPD und Linkspartei rechts gewählt. Was da bösartige Protestnote ist, was stabiler Rechtsextremismus, wird sich noch sortieren.

Vorbei ist es in der Tat mit einem Kollateraleffekt der Merkel-Ära – der sanften Einschläferung der politischen Debatten. Die Gesellschaft ist politischer geworden, die Mutti, die die Sache schon für uns regelt, ist wohl ein Auslaufmodell. Doch ansonsten ist die erstaunlich erfahrungsresistente Prognose, dass es mit Merkel mal wieder vorbei ist, vorschnell. Für Untergangsgesänge ist es zu früh. STEFAN REINECKE

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Von 2018 bis 2020 taz-Parlamentskorrespondent. Zuvor von 2013 bis 2018 Leiter der taz-Inlandsredaktion, von 2012 bis 2013 Redakteur im Meinungsressort. Studierte Politikwissenschaft in Berlin, danach Arbeit als freier Journalist für Zeitungen, Fachzeitschriften und Runkfunkanstalten, Pressesprecher eines Unternehmensverbands der Solarindustrie und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.

Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

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