Die Mitte fehlt: Meditationen über die sogenannte Mitte
Am 60. Geburtstag seines Bruders begegnet unser Autor der Gesellschaft. Nur eins ihrer Teile ist abwesend.

A uf einem 60. Geburtstag war ich noch nie gewesen. Aber nun lud der Bruder nach Hamburg, und natürlich kamen sie alle, aus Nord und Süd. Von den sechs Menschen, mit denen ich mich bei der abendlichen Gartenparty unterhalten konnte – wenn der große Bruder feiert, steht der kleine am Grill –, waren sechs Männer, alle Mitte 50 bis 60. Drei von ihnen arbeiteten nicht mehr, der vierte machte nur weiter, weil er noch Lust hatte. Zwei waren Berater, einer Pilot und der vierte hatte schon mit 15 im Handwerk angefangen zu hackeln. Und der fünfte und der sechste? Sie sprachen wenig über das, was sie taten. Klar wurde, sie schlugen sich so durch, hatten keine Rücklagen erwirtschaftet, die ihnen ein zurückgelehntes Frührentnerdasein ermöglichten.
Fehlt hier nicht die Mitte? Fragte ich mich am nächsten Tag, einigermaßen derangiert auf einem alten Segelboot über die Elbe schippernd. Und wenn ja, was war das eigentlich? Eine Kollegin hatte kürzlich gesagt, für sie als Ostdeutsche sei diese Mitte, nach der alles strebe, eine Unbekannte; und ein FAZ-Kommentator hatte neulich gemeint, die Politik kümmere sich zu wenig um die Mehrheit: heterosexuelle Menschen ohne Migrationshintergrund in einem Beschäftigungsverhältnis.
Auf dem sonnenbeschienenen Boot – ja, auch Hamburg kann das –, musste ich plötzlich an Marcello Mastroianni denken. Der hatte mal auf die Talkshow-Frage, was er versäumt habe im Leben, geantwortet „Nicht wirklich gesündigt zu haben. Meine Irrtümer sind immer ein wenig bei der Hälfte stehen geblieben.“ Mastroianni meinte dann noch, vielleicht habe das mit seinem Sternzeichen zu tun, er sei Waage.
Ich auch. Das gibt mir zu denken. Ist Mitte einfach Feigheit? Mein Bruder ist aber Jungfrau. Er arbeitet noch. Zu seinem 60. gibt es kein Catering, seine Leute kochen selbst. Aber er leistet sich auch eine Bootsfahrt für Freunde und Familie. Und wenn man mit meinem Bruder über die AfD spricht, erzählt er vom Wahllokal, in dem er sich seit vielen Jahren engagiert. Die AfD-Wähler glaube er immer schon beim reinkommen zu erkennen: Das seien die Schlechtgelaunten, die, die nicht grüßten.

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Die Mitte, das ist vielleicht nicht mehr die Mehrheit, und vielleicht hat sie auch gar nicht eine so starke ökonomische Komponente. Die Mitte, das sind die Genussfähigen, die Großzügigen, die Gutgelaunten, die Engagierten. Mein Bruder ist Mitte. Happy Birthday!
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