Die Nachbarn des DFB-Quartier (4): „Gewalt als Wunsch nach Harmonie“

Besorgnis und Vorfreude - so blicken Bewohnerinnen und Bewohner von Salvador da Bahia auf die kommende WM.

„Ich fürchte, die schlechte Infrastruktur werden die Touristen als Erstes mitbekommen.“ - Isabel Maria Lorredo Bild: Adenor Gondim/Goethe Inst.

 

Wenn ich manchmal aus der Eingangshalle des Goethe-Instituts auf die Straße schaue und den Stau sehe und die vielen Löcher in den Straßen, dann denke ich: Nur noch kurze Zeit bis zur WM! - und bin richtig erschrocken.

 

Ich fürchte, die schlechte Infrastruktur werden die Touristen als Erstes mitbekommen. Und das wäre schade. Denn Salvador hat nicht so viele Sehenswürdigkeiten wie Rio de Janeiro. Dafür haben wir aber diese ganz besondere Atmosphäre - die man erst nach einer Weile registriert.

 

Ein Vorteil: Salvador ist ein bisschen wie ein Dorf, mit São Paulo verglichen. Die Leute hier beginnen mit einem zu reden, fragt man sie nach dem Weg. Sie freuen sich auf Besucher.“

 

Isabel Maria Lorredo, 51 Jahre, Rezeptionistin in der Telefonzentrale des Goethe-Instituts Salvador

 

Ich glaube nicht, dass ich ins Stadion gehen kann. Vielleicht hat mein Vater das Geld, aber das ist eher unwahrscheinlich. Vermutlich werde ich die Spiele irgendwo in einer Bar sehen. Aber es ist schon klasse, dass die ganze Welt jetzt zu uns kommt, um sich Fußball anzuschauen. Natürlich hoffe ich, dass Brasilien Weltmeister wird.

 

Ansonsten bin ich dafür, dass Südkorea gewinnt. Die werden ja immer besser, wer weiß. Nicht richtig finde ich, dass an jedem Spieltag der Seleção hier in Salvador die Schule ausfallen soll. Wie sollen wir den Unterricht bis zu den Prüfungen nachholen? Ich bin am besten in Naturwissenschaften. Dafür im Fußball eher schwach. Alle meine Freunde schimpfen, ich würde immer so zutreten.“

 

Gustavo Henrique Felipe Nacimento, 11 Jahre, Schüler

 

Ich liebe Brasilien, unsere Kultur, unseren Fußball. Unsere Kultur spiegelt sich in unserem Fußball. Wir erfinden den Fußball immer wieder neu. Wir ziehen die Kunst dem Tor vor.“ José Carlos Capinan ist ein Intellektueller wie aus dem Bilderbuch, mit dick umrandeter schwarzer Brille, weißem Haar und Bart. Er leitet das Museu Nacional da Cultura Afro-Brasileira in Salvador (Bahia).

 

„Der Fußball ist ein großer Katalysator“, sagt er. „Die Copa enthüllt ein Brasilien, das wir uns nicht vorstellen konnten. Das Brasilien der Proteste, der Unzufriedenen, des Konflikts. Gewalt ist nicht die Essenz unserer Gesellschaft, sondern der Wunsch nach Harmonie. Umso mehr treffen uns die Nachrichten der Proteste. Es ist die vorweggenommene Leidenschaft.“

 

Der 73-Jährige gehörte zur Generation der Tropicalisten, die ihren Protest gegen die Militärdiktatur in Musik und Worte fassten. Mit Gilberto Gil komponierte er den Song „Soy loco por ti, America“, den Caetano Veloso 1968 auf seinem ersten Album aufnahm. „Alle glauben, dass wir wieder Weltmeister werden. Es gibt kein Fest, das mehr durch Leidenschaft geprägt wird. Millionen von Menschen, die in die Mittelschicht aufgestiegen sind, möchten teilnehmen. Durch den Fußball erwacht ein neues Brasilien. Dafür zahlen wir gerade die Rechnung.“

 

Und er fügt an: „In den letzten 500 Jahren wurden die Strukturen unserer Gesellschaft selten so infrage gestellt. Wir finden die Antworten nicht mit der nötigen Geschwindigkeit. Die Bedeutung des Fußballs ist so groß, dass die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen unseres Landes ausgetestet werden. Es ist der Moment der Prüfung des Markts, der Bürgerrechte, der Kultur. Die Copa ist ein Test des neuen, modernen Brasiliens.“

 

José Carlos Capinan, 73 Jahre, Dichter und Komponist