Die Wahrheit: Magen aufgewühlt

Martin Walsers Tagebebuch gefunden! Finnland, Leipzig, Bodensee.

Gern würde Martin Walser in seinem verlorenen Tagebuch nachlesen, was er in seinem Leben so treibt. Bild: dapd

Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der 85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht.

Februar, 8.40 Uhr, Zug nach Tampere, Finnland

Bin seit zwei Tagen in diesem von Sunna vergessenen Land. Die Erde, die Städte – alles wird in diesen Monaten in ein dunkles Laken gehüllt, das nur für wenige Stunden, an manchen Tagen nur für Minuten, gelüpft wird. Vögel ziehen wie Schatten über den Himmel. Wohin fliegen sie, was mögen sie in ihrem Schnabel führen?

Der Zug rast durch die Landschaft, die einem Schattenriss gleich in ihrer Starre gefangen ist. Angenehme Fahrt. Gute Polsterung, selbst in der zweiten Klasse. Noch 51 Minuten. Hoffe, Fred ist pünktlich. Spüre das Knie wieder. Wenigstens etwas, das ich dieser Tage noch spüre. Würde dennoch ungern lange in der Kälte stehen.

In Pasila unerwartet ins Leben geworfen. Es scheint der Knotenpunkt Finnlands. Ein wildes Tohuwabohu um die Plätze, Schulkinder, die um einen Sitzplatz rangeln. Balgen. Raufen. Ringen. Kämpfen. Fighten. Wie Tierkinder um Mutters Zitze.

Die älteren Schüler und die Büroknechte, die das Rosa ihrer einst guten Durchblutung gegen das Grau ihres Aufstiegs eingetauscht haben, tippen unablässig in ihre mobilen Endgeräte. Morsezeichen der Moderne. Frage: Habe ich der Generation Twitter noch etwas zu sagen? Ich, der ich mit dem Federkiel über Bütten streiche? Der, wenn auch nicht mit letzter Tinte, so doch mit sich leerendem Fass die Worte zu verbreiten sucht? Haben wir noch eine Verbindung? Erreichen sie meine Worte, meine Gedanken noch?

Gute Roman-Frage. Papier, Tinte, schreiben; von Hand schreiben. Briefe. Echte Briefe. Briefmarke. Speichel. Stempel. Aufreißen. Erregung. Zittern. Seidenpapier. Plot: Mann trifft Frau. Faszination. Frau unerreichbar. Mann schreibt. Unbedingte Offenheit. Nacktheit der Seele. Entblößung. Frau öffnet sich unter seinen Worten wie Blüte unter Sommerregen. Das Unmögliche wird möglich. Mann, Frau, Deutsche Post AG. Bedingungslos, leidenschaftlich, ungezähmt. Beischlaf auf Papier. Am Ende: Das Aus.

Helsinki, auf dem Flughafen

Gestern mit Verleger telefoniert. Findet Idee großartig. Soll schnell schreiben. Das Thema läge in der Luft.

März, Zug nach Leipzig

Mein Magen macht mir erneut große Probleme. Mein Arzt rät, rigoros auf Säure zu verzichten. Hat mir drei Wochen Haferschleim verordnet. Nicht einmal Apfelspaten darf ich unterrühren. Trinke Milch wie ein Säugling. Und führe einen Henkelmann voll Hafergrütze im Gepäck. Habe im Speisewagen gebeten, die Grütze auf einen Teller zu geben. So viel Würde muss auch ein Magenkranker verlangen dürfen!

Nur leider lernen diese Hilfskräfte der Deutsche Bahn in ihren Schulungen nicht mehr, was das ist, Würde. Achtung, Anstand. Erst, als ich sagte, ich sei Erster-Klasse-Passagier, war man bereit, einen Teller für mich aus dem Regal zu holen. Am Ende haben die Deppen einen Petersil auf das Grau gelegt. Ich habe es ostentativ am Rand liegengelassen.

Leipzig, Hotelzimmer

Ach, diese Messen! Welch Teufelswerk! All dies Geschnatter um die angebliche Literatur und die hohe Kunst! Welch hohe Kunst, will man wissen, wo doch alle nur noch Kochbücher machen und man gar nicht mehr erkannt wird! „Heuchler!“, möchte ich ihnen zurufen. Königsmörder! Doch in dem Krach hört einen ja keiner. Denke mit Wonne an die Zeiten, als einem wie mir eine Hostess an die Seite gestellt wurde. Oder zwei. Da musste man nur das Lid heben, und sie wussten ein Wasser zu bringen oder Luft zu fächeln. Oder … Nein, die Zeiten sind andere, und es sind keine guten.

Wenigstens ist das Hotel anständig, wenn ich auch ausdrücklich um stilles Wasser gebeten habe und erneut eine Flasche „Medium“ auf dem Tische steht. Heute Abend Essen mit Marlene Streeruwitz. Ausgerechnet! Dem Schreck die Schraube. Muss zuvor noch etwas ruhen. Wieder der Magen …

April zwischen Friedrichshafen und Bregenz

Der ICE ist ausgefallen. Man hat einen Zug aus den fünfziger Jahren als Ersatz auf die Schienen gebracht. Ein „Bummelzug“, wie man so sagt. Wollte mich erst aufregen, als mir die stille Kraft dieses Umstandes bewusst wurde: „Bummeln“. „Bummeln“, so ein träumerisches, schlafwandlerisches Wort. Wann habe ich, wann haben wir, Deutschland!, zuletzt gebummelt?! Du TGV Europas! Rauschst im Hochgeschwindigkeitstakt durch die neue Zeit, und reißt alles mit: die Menschen, die Mitte, die Muße.

Wann, Deutschland!, hast du zuletzt gebummelt? Innegehalten? Wann bist du wie ein Landstreicher durch die Lande gestrichen? Hast wahrgenommen, was wir haben: Blumen am Wegesrand, Korn im Feld und genug für uns alle. Dein Schneller-Weiter-Besser ist eine Blase am Horizont. Es ist alles da. Halt ein, Deutschland, bummle! Schöne Idee. Noch ein wenig ausschmücken und an die Süddeutsche schicken!

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