Die Wahrheit: Diagnostik der Öde

Wintersport nun endlich genau erforscht: Warum sedierendes Fernsehen Trumpf ist, hat mentale und spirituelle Gründe.

Bild: Ari Plikat

Das Phänomen erscheint auf den ersten Blick so unerklärlich wie CSU-Politik, Phantomschmerz oder Glutenunverträglichkeit: Wintersport. Warum sitzen jedes Jahr zahllose Zuschauer gut gemästet vor ihren Fernsehern und grunzen vergnügt bei sedierenden Disziplinen wie Skilanglauf und Biathlon? Wäre es nicht unendlich spannender, mit der Liebsten zu kniffeln oder im Keller die alte Eisenbahn endlich mal wieder aufzubauen?

Der britische Soziologe und Hobby-Antiseptiker Thomas Alexander Bernstein hat die letzten vierzig Jahre seines Berufslebens damit verbracht, genau diesen Fragenkomplex zu beantworten. Die Motivation für seine Forschung fußt auf einer sehr persönlichen Erfahrung. Bernstein verließ nach nur zwei Monaten Ehe seine Frau, da diese wiederholt darauf bestand, die Vierschanzentournee zu verfolgen. Jetzt hat er seine umfassende Studie „Diagnostics of Boredom – Wintersport as a Lifesaver“ veröffentlicht – mit überraschenden Ergebnissen.

Das Skispringen findet besonders viele Anhänger unter den Wintersportfans. Diese Disziplin von „herausragender Ödheit“, so Bernstein, habe eine wichtige soziale Funktion. Die Flugphase der „vollverpackten Wichte“ bezeichnet der Soziologe als „Schwebezustand zwischen Sein und Nichtsein“. Nicht nur befänden sich die Skispringer aufgrund ihres minimalen Körpergewichts in einer Art „körperlichen Auflösung“, auch der Zuschauer erlebe eine shakespearianische Grenzerfahrung. Die Uneindeutigkeit vor der Landung führe dazu, dass mancher sein gesamtes Leben infrage stelle. Zum Beispiel, ob der Bund der Ehe tatsächlich so eine gute Idee gewesen sei.

Kritiker werfen Bernstein vor, seine persönlichen Erfahrungen zu verallgemeinern. Das Kapitel zum Skisprung lese sich vielmehr wie eine Abrechnung mit seiner Exfrau als eine fundierte wissenschaftliche Analyse. Bernstein weist die Vorwürfe weit von sich. „Solide Feldforschung beginnt im eigenen Wohnzimmer! Wer anderes behauptet, ist ein fantasieloser Kretin!“

Biathlon – „Fanal des Stumpfsinns“

Dem Langlauf diagnostiziert Bernstein „erschütternde Belanglosigkeit“, die den Zuschauer in einen Zustand „transzendenter Sinnlosigkeit“ versetze. Das sei gerade im 21. Jahrhundert – dem Zeitalter der Selbstoptimierung – für viele gestresste Menschen attraktiv. Zudem sei die Sportart frei von jedweder Spannung, deshalb sorgten schon kleine Vorkommnisse für freudige Erregung: „Dann werden bereits Endorphine ausgeschüttet, wenn der Athlet sich die Bindung zuschnallt, einem Fan winkt, oder ein Schneehäschen verwirrt an der Piste hoppelt.“

Ein besonderes Augenmerk richtet der Soziologe auf den Biathlon, den er „Fanal des Stumpfsinns“ nennt. Dieser kombiniere zwei für den Beobachter „verstörend primitive Handlungen“ – endloses Laufen auf Skiern und eintöniges Schießen auf eine Scheibe. Dadurch wirkten plötzlich banale Handlungen wie Geschirrspülen oder auch Zähneputzen aufregend und belebend. Der Alltag des Wintersportfans böte endlich wieder Grund zur Freunde, resümiert Bernstein.

Auch die politische Funktion des Wintersports wird in der Studie analysiert. Dabei prägt der Forscher den Begriff des Whitewashing neu. Schnee werde als rein und unschuldig wahrgenommen. Für Autokraten und korrupte Herrscher gebe es keine einfachere Möglichkeit, ihr Image aufzupolieren: „Schneekanone an, schon sind Unterdrückung und Folter vergessen!“, bilanziert Bernstein. „Den Oppositionellen zeigen Sie mir, der nicht bei der ersten Flocke sein Protestplakat in die nächste Ecke pfeffert, um einen Schneemann zu bauen!“ China wolle sich, mit der Bewerbung Pekings als Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2022, genau diese Effekte zunutze machen.

Bernsteins Studie „Diagnostics of Boredom – Wintersport as a Lifesaver“ hat dem Verfasser selbst die Augen geöffnet. Wintersport zeige eben faszinierende soziologische Facetten und erfülle gesellschaftliche Funktionen, die der Forscher übergeordnet „Wintersport-Korrektiv“ nennt. Mittlerweile hat Bernstein seine Exfrau kontaktiert und ihr eine neue Chance für die Beziehung in Aussicht gestellt. Doch der Trennungsschmerz hat dazu geführt, dass diese sich vom Wintersport gänzlich abgewendet hat. „Nun bin ich auf der Suche nach einer richtigen Wintersport-Fanatikerin!“, verkündet der umtriebige Soziologe und freut sich über Zuschriften mit Bild.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.