Die Wahrheit: Die schwarze Armee

Winzige dunkle Gestalten belagern eine Millionenstadt. Dort fürchtet man von den beinlosen Wesen überrannt zu werden.

Die ganze Ebene war bis zum Horizont übersät mit kleinen schwarzen, anscheinend nur aus Oberkörpern bestehenden Gestalten, die in militärischer Marschordnung, doch ohne einen Laut auf uns zu kamen. Wie sie sich fortbewegten, war für menschliche Augen nicht zu erkennen. Man konnte meinen, ihre Beine befänden sich im Erdboden und sie schritten darin wie in bauchhohem Wasser voran, sodass hinter ihnen der Boden sofort wieder eine glatte Oberfläche bildete. An ihrem oberen Ende, auf dem, was ihr Kopf sein musste, trugen die wie geteert wirkenden Gestalten spitze Mützen oder Kapuzen. Sie streckten außerdem ihre Arme in die Höhe und schwangen flaschenartige Gegenstände.

Damit konnten wir überhaupt nichts anfangen. Einer von uns meinte, der Anblick erinnere ihn an eine Abbildung auf dem Etikett einer irgendwann geleerten, leider schon fortgeworfenen Weinflasche. Ich vermochte bei diesem Thema nicht mitzureden, weil ich Abbildungen auf Flaschenetiketten von Natur aus nicht verstehe.

Doch für solche Betrachtungen war jetzt kaum die rechte Zeit, wir empfanden das Nahen der beinlosen schwarzen Armee als überaus beängstigend. Möglichkeiten zur Verteidigung gegen eine solche Übermacht bestanden keine, in Kürze würden wir überrannt werden.

Zu unserem unbeschreiblichen Glück zog die Invasion aber an uns vorbei. Schon bald war nichts mehr von ihr zu sehen. Wir atmeten alle auf, jedoch nur für den Augenblick. Denn wenn wir selbst auch verschont geblieben waren, musste nun – und nicht ohne Grund – befürchtet werden, die nahe Millionenstadt könne das Ziel der zahllosen, selbst bei Tageslicht gespenstisch wirkenden schwarzen Zwerge sein.

Deshalb beeilten wir uns, Freunde und Familienangehörige in der Stadt, aber auch die Behörden vor der sich nähernden Gefahr zu warnen, obwohl uns allen klar war, dass für eine planvolle Evakuierung keine Zeit bleiben würde. Wir konnten nur inständig hoffen, das plötzliche Bekanntwerden solch drohenden Unheils möge nicht auch noch eine Panik auslösen.

Bange Stunden durchlebten wir. Umso größer war dann unsere Erleichterung, als die Katastrophe ausblieb. Weder in der Stadt noch im Umland hatte ein massenhaftes Auftreten von kleinen schwarzen Gestalten stattgefunden.

Einige Tage später tauchte die schwarze Armee zum zweiten Mal auf und bedeckte wieder die gesamte Ebene bis zum Horizont. Diesmal zog sie in entgegengesetzter Richtung an uns vorbei. Ähnliches ist dann nie wieder vorgekommen.

Wegen unserer besorgten Anrufe gelten wir den Leuten in der großen Stadt seither als verrückte Provinzler. Man unterstellt uns lange und breite Drogenexzesse und geistig-seelische Zerrüttung. Das kränkt uns ungemein in unserer Würde, denn wir wissen sehr gut, was wir damals gesehen haben.

Unsere Sorge um die Lieben hat letztlich zum Zerwürfnis mit ihnen geführt. Sie sind nicht länger unsere Lieben. Inzwischen bestehen keinerlei diplomatischen Verbindungen mehr mit der Stadt.

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kari

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