Die Wahrheit: Abgehängt

Kaum ist man 50 Jahre geworden, sozusagen Best Ager, versteht man die schöne neue Welt der jungen Menschen schon nicht mehr.

Profilbild eines Mannes Junger Mann im Netzwerk Tinder

Illustration: Jean La Fleur

Spätestens mit dem fünfzigsten Jahre stellt sich beim alternden Staatsbürger eine irreversible Entfremdung von einer Welt ein, die sich immer schneller wandelt. Was gestern noch zu gelten schien, liegt heute auf der Müllhalde der Geschichte. Das Leben verfolgt man fortan nur noch wie ein völlig unverständliches Stück vom hintersten Platz des Theaters aus. Es ist dunkel, man versteht kein Wort. Ob Werte, Symbole oder Sitten – man blickt einfach nicht mehr durch.

Die Codes haben sich dramatisch geändert. Nehmen wir zum Beispiel diese Gestalten mit den dunklen Bärten, Klamotten aus der Altkleidersammlung und Mützen, wie sie Südstaaten-Hillbillies trugen, während sie aus dem Fenster ihres verschrammelten Pick-ups auf Schwarze, Hippies und Motorradfahrer schossen.

Früher war die Diagnose einfach: Das sind ganz schlimme Strolche, deretwegen man besser die Straßenseite wechselt und schon mal prophylaktisch den Häscher alarmiert. Heute aber kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es Creative Management Directors auf dem Weg ins Szenerestaurant Wichtelmann & Putzig sind, wo sie ein zehngängiges Menü mit Variationen vom Brandenburger Rapunzelgemüse aus nitrit-, nitrat- und neutronenfreier Schonzüchtung genießen.

Auch die deutsche Sprache, in der man sich so lang geborgen und zu Hause fühlte, ist ein unwirtliches Heim geworden. Das Dach ist undicht, der Keller voller Leichen: „Bitch“, „sichere Herkunftsländer“, der bereits erwähnte „Creative Management Director“, und, der letzte und irrste Schrei, „besorgte Bürger“. Denn noch bestens erinnerlich ist die Zeit, als Millionen nach heutiger Diktion „besorgte Bürger“ mit schwerem Schießgerät in die Nachbarländer einfielen, diese verheerten und die Bevölkerung ermordeten.

Und das alles nur aus Angst davor, zu kurz zu kommen. Die dafür gebräuchlichen Bezeichnungen „Nazis“, „Wehrmacht“ und „Mörder“ waren zweckmäßig und gut. Die euphemisierende Sprachregelung hingegen, nach der man „besorgte Bürger“ (Arschlöcher) „an die Hand nehmen“ (Sigmar Gabriel, Pegida, Zapfsäule) und „ihre Sorgen ernst nehmen“ (verfassungswidrig die Grundrechte von Flüchtlingen aushebeln) müsse, verzerrt die Sachverhalte eher schon ins Gegenteil. Was bleibt, ist die wohl genuine Angst vor dem Zu-kurz-Kommen.

Hallo, willst Du ficken?

Natürlich tragen auch technische Neuerungen zum verstörten Rückzug des abgehängten Best Agers bei. Will man heutzutage am Leben teilnehmen, braucht man ein Komputergerät. Ohne Komputer gilt man nicht als lebensfähig, als quasi gar nicht da. Da kann man noch so freundlich gucken, noch so eindringliche Worte sprechen oder sogar ein Handbeil demonstrativ in die Tischplatte schlagen: man wird einfach nicht beachtet. Stattdessen gucken alle auf ihre Handkomputer, die die Unterhaltungen an ihrer Stelle führen.

Tatsächlich unkomplizierter scheint mir jedoch das Geschlechtliche geworden. Wandelte man einst auf Freiersfüßen, bedeutete das ein jahrelanges Herantasten mit handgeschriebenen Gedichten auf Büttenpapier, nächtelanges Tröten auf der Schalmei, teure Tanzkurse und Seminare für „Essen mit Besteck“. Zeigte sich die Angebetete nunmehr gewogen, wandte man sich an ihren Vater. Wurde man von diesem nicht erschlagen, erkaufte man sich seine Gunst durch zehn Stück Kühe oder Fronarbeit. Und das alles vor dem ersten Kuss.

Heute geben sich die Leute auf einem Empfang nur einmal kurz die Hand und fragen dann: „Willst du ficken?“ Und sofort geht es, heidewitzka, auf den Balkon oder ins Nebenzimmer. Sogar eine Antwort wie „ja“, „nein“ oder, „weiß nicht“ erübrigt sich laut Bundeskanzleramt, dessen Insassen allerdings auch niemals ohne Sicherheitsbeamte durch dunkle Parks nach Hause müssen.

Das klingt jedenfalls alles schon wahnsinnig praktisch. In meinen sexuell aktiveren Zeiten hätte ich mir solch unbürokratische Abläufe durchaus gewünscht. Es ist auch nicht alles schlechter heute.

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kari

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