Die Wahrheit: Lauter Aschenbechergesichter

Alte Filme wiedergesehen: „Angst essen Seele auf“. Ein komisches Meisterwerk mitten aus dem tiefen Elend der Siebzigerjahre.

Wenn bei uns früher in der Schule etwas schieflief – wenn zum Beispiel ein Lehrer krank oder zu betrunken zum Unterrichten war –, wurde ein Film gezeigt. Das ist heute immer noch so, wie mir gestern eine unter meiner Erziehungsgewalt stehende Gewährsperson berichtete. Der Unterschied ist, dass man die Freistundenvermeidung inzwischen mithilfe von DVDs und Flachbildschirmen oder Beamern erledigt, wir hingegen in den „Mädchenraum“ gehen mussten, um uns dort eine ratternde und knatternde 16-mm-Kopie eines Filmes über die Lebensumstände des europäischen Feldhamsters oder über den Mauerbau anzusehen.

Hin und wieder gab es auch „Fiction“: „Die Brücke“ von Bernhard Wicki oder „Angst essen Seele auf“ von Fassbinder. Das waren die einzigen Spielfilme, die sich dauerhaft im Besitz der Schule befanden und nicht extra angefordert werden mussten. Den Antikriegsfilm von 1959, in dem viele später sehr bekannte deutsche Fernsehnasen wie Fritz Wepper und Volker Lechtenbrink debütierten, hatte ein geläuterter Weltkriegs-Zwei-Veteran angeschafft, für den Erwerb des Fassbinder-Films war einer der gesellschaftskritischen und gastarbeiterfreundlichen 68er-Referendare verantwortlich.

Fassbinder war klar unser Favorit: Der Film war in Farbe, hatte eine wuchtige Aussage, wagte etwas, und ungefähr nach 50 Minuten war nicht nur ein attraktiver nackter Mann, sondern sogar kurz ein Penis zu sehen. Das hatte man nicht oft und faszinierte uns je nach Geschlecht, sexueller Orientierung und ästhetischem Interesse aus verschiedenen Gründen.

Wenn man sich den Film heute anschaut, gruselt es einen. Die Atmosphäre, die Bilder, die Gesichtsausdrücke sind so bedrückend und armselig, dass man reflexartig denkt: Boah, gut dass man in der Zeit, in der der Film spielt, nicht gelebt hat. Bis einem einfällt: Scheiße, man hat ja damals gelebt. Zwar in klein, aber trotzdem. Und die unheimlichen Bilder sind alle abgespeichert, irgendwo zwischen dem ersten gesehenen Zombiefilm und dem Stillleben der plattgefahrenen Katze auf dem Zebrastreifen vor der Schule.

In den Siebzigern war dieses Elend jedoch normal und wurde nicht als übermäßig deprimierend wahrgenommen: die Kittelschürzen, das fahle Licht in den halbvertäfelten Kneipen, die hilflos geblümten Tapeten und die Hölzernheit der Menschen, die einen dekorativen Gegensatz zur angestrengten Modernität der Umgebung bildete.

Besonders fasziniert die Künstlichkeit der stilisierten Umgangssprache. Kein Mensch sprach so. Auch nicht in den Siebzigern. Am eindrucksvollsten ist dabei das wohlgesetzte Old-School-Kanak-Deutsch der Hauptfigur „Ali“ (!). Der Marokkaner redet meist in Infinitiven: „Du nix Mann verheiratet?“ Oder: „Ali nix schläft, viel Gedanken im Kopf. Will sprechen mit Dir.“

Auch das fiel mir damals nicht auf. Heute ist es mir klar: Ali redete wie Winnetou! Ali war ein edler Wilder, Brigitte Mira sein Old Shatterhand. Und Fassbinder war: Karl May.

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Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)

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kari

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