Die Wahrheit: Am Verteilerkasten

Kleine Solidaritätsadressen in Zeiten ungehemmter Ausländerhetze und sozialer Spaltung können sich schnell ins Gegenteil verkehren …

Vor unserem Haus steht einer dieser grauen Telefonverteilerkästen. Seit einiger Zeit dient er einem sichtbar vom Alkohol gezeichneten älteren Herrn als Raststätte bei seinem täglichen Spaziergang. Immer mit einer Zigarette im Mund und der Bierflasche in der Hand steuert er trotz erheblicher Koordinationsschwierigkeiten stets zielsicher den Kasten an, wo er Halt und vermutlich auch Trost findet. Erleichtert stützt er sich dort auf, stellt sein Bier ab und verschnauft.

Als ich unlängst vom Brötchenholen heimkehrte, sah ich schon von Weitem, dass der Kastensteher bereits am Kasten stand und sein Frühstücksbier zu sich nahm. Durch die Rabatten neben dem Kasten huschte ein leuchtend orange gefärbter Mann. Ein Mitarbeiter der Stadtreinigung, der mit einer langen Zange eifrig den Müll zwischen den Büschen barg.

Beim Näherkommen hörte ich, wie der Verteilerkastensteher auf den Müllmann einredete: „Und das lassen sie wieder euch Türken machen, diese Arschlöcher, stimmt’s?“ Der Müllmann reagierte nicht, sondern bemühte sich, einen angebissenen Döner aus einem kleinen Strauch zu fischen. Der Verteilerkastensteher nahm einen weiteren Schluck, dann wiederholte er: „Ich sagte, dass lassen die Arschlöcher wieder euch Türken machen, stimmt’s?“

Der Müllmann ließ sich nicht beirren und zupfte schweigend an einer zerfetzten Aldi-Tüte. Ob er tatsächlich Türke war? Oder auch nur türkischstämmig? Der Trinker ließ sich nicht abbringen: „Das ist nicht in Ordnung, dass die alles einfach euch Türken wieder aufsammeln lassen. Diese Arschlöcher!“ Ich freute mich über diese kleine Solidaritätsadresse in Zeiten immer ungehemmterer Ausländerhetze und sozialer Spaltung. Der Müllmann schwieg weiter, vielleicht sprach er ja gar nicht Deutsch. Der Mann am Verteilertresen zuckte mit den Schultern, nahm noch einen tiefen Zug von seiner Zigarette und schnipste den Stummel dann in hohem Bogen ins Gebüsch.

Nun sagte der Müllmann doch etwas. Er sagte: „Am Mülleimer da drüben ist extra ein kleines Fach für Kippen. Es wäre schön, wenn Sie das in Zukunft nutzen würden.“ Der Verteilerkastenfesthalter hielt sich am Verteilerkasten fest, starrte den Müllmann kurz fassungslos an, dann brüllte er los: „Aber sonst geht’s dir gut, oder was? Bist du der Blockwart hier, oder was? Oder was glaubst du, wer du bist, du Kümmeltürke? Dass du uns Deutschen hier im eigenen Land Vorschriften machen kannst, oder was? Arschloch!“

Zornig griff er nach seiner Flasche und wankte zwar nicht geraden, aber entschiedenen Schrittes davon, kopfschüttelnd, fluchend und schimpfend. Der Müllmann hingegen blieb ganz ruhig und tat weiter seine Arbeit. Er kam zum Verteilerkasten, holte geschickt mit seiner Zange den Zigarettenstummel aus den Rabatten und zog weiter die Straße hinunter, in dem sicheren Wissen, dass er noch reichlich zu tun haben würde.

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Heiko Werning ist Reptilienforscher aus Berufung, Froschbeschützer aus Notwendigkeit, Schriftsteller aus Gründen und Liedermacher aus Leidenschaft. Er studierte Technischen Umweltschutz und Geographie an der TU Berlin. Er tritt sonntags bei der Berliner „Reformbühne Heim & Welt“ und donnerstags bei den Weddinger „Brauseboys“ auf und schreibt regelmäßig für Taz und Titanic. Letzte Buchveröffentlichung: „Vom Wedding verweht“ (Edition Tiamat).

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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