Die Wahrheit: Das Wesen aus der Schuhschachtel

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (62): Besitzer von Goldhamstern stellen stets sich selbst in den Mittelpunkt.

Hamster sind so etwas wie ein Spielzeug, glauben viele Nagerbesitzer Foto: AP

Dem Zoologen Israel Aharoni gelang es 1930 erstmalig, Goldhamster zu fangen, sie leben fast ausschließlich auf der Hochebene von Aleppo. Es war ein Weibchen mit elf Jungen, davon überlebten vier: drei Männchen und ein Weibchen.

Sie waren als Versuchstiere in wissenschaftlichen Laboren gedacht, aber schon bald stammten auch alle Goldhamster in Privathaushalten von diesem Weibchen ab. Die über die ganze Welt verteilten kleinen Nagetiere wären ein schönes Gegenbeispiel für das „Inzestverbot“, das stets damit begründet wird, Degenerationserscheinungen zu vermeiden, denn die Menschen sollen es ja den Tieren nachtun und sich nur mit den „Fittesten“ verpaaren, weil dadurch die Evolution vorankommt.

Den Goldhamstern ist die Evolution schnuppe. Ähnlich ist es mit den Populationen auf vielen Inseln, die meist nur von wenigen Lebewesen einer Art besiedelt wurden, manchmal nur von einem befruchteten Weibchen, das ein Sturm dorthin verschlug. Fit halten sich Goldhamster im Käfig mit dem „Hamsterrad“, womit sie in Donald Ducks Entenhausen auch gleichzeitig noch den Strom für die Haushalte produzieren.

Von den Goldhamstern kann man viel lernen. Die Wiener Schriftstellerin Marlene Streeruwitz begann 2004 ihre „Vorlesungen“ über Goldhamster, „die in Schuhschachteln nach Hause getragen wurden. Wir sollten ja was lernen. Auch wenn die Hamster schon am ersten Abend tot in der Schuhschachtel lagen. Nun. Der Zeit entsprechend lernten wir eine Menge rhetorischer Figuren. Wir lernten Kolonialisierung zu sentimentalisieren. Wir lernten Inbesitznahme der Tiere als Tierliebe zu bezeichnen. Wir lernten verständnisloses und unwissendes Ansehen des Objekts als Zuwendung zu bezeichnen. Wir lernten den Aneignungssatz ‚Jö. Is der goldig‘ als die richtigere und daher objektivere Weltbeschreibung zu sehen. Und wir lernten den Tod als unabwendbare Notwendigkeit akzeptieren. Das hieß dann Verantwortungsbewusstsein.“

Nager in Puppenkleidern

Die Schriftstellerin Meg Wolitzer erzählt in „Die Ehefrau“ (2016), dass ihre Töchter „ihren hilflosen Hamstern Puppenkleider anzogen“. Nicht selten werden Kinderzimmer-Goldhamster nach ihrem Tod mit einem aufwendigen Ritual begraben, um das Kind zu trösten. Fotos davon werden heute auf Facebook gepostet. „Mit gesenktem Kopf dastehen und zur Kenntnis nehmen, dass nun auch dieser Hamster nicht mehr lebte. Wir lernten daran die Ersetzbarkeit von Liebe. Wenn der ‚Goldi‘ tot war, wurde der ‚Hansi‘ gekauft. In aller ‚Menschlichkeit‘ hatten unsere weichen Kinderherzen eine Lektion in Krieg erhalten.“

Um dieses Verfahren abzukürzen, zu effektivieren, gibt es immer neue Goldhamster-Ratgeber. Sie heißen „Unser Hamster“ oder „Liebenswerte Hamster“. Erwähnt sei ferner hamster­info.de mit den Rubriken „Kauf und Eingewöhnung“, „Ernährung“, „Haltung“ und „Zucht“ sowie einem „Gesundheitscheck“: Worauf man bei der Anschaffung eines Goldhamsters achten muss. Es wird einem geraten, das Gespräch mit Leuten zu suchen, die schon einen Hamster besitzen. Auf Speedy’s Hamsterseiten kann man dazu ein deutschlandweit reichendes „Formular“ ausfüllen: „Hamsterfreunde in Ihrer Umgebung suchen und finden.“

In Entenhausen produzieren Hamster im Hamsterrad den Strom für alle

Bei den „Hamstergeschichten“ wird unter anderem erzählt: „Wie ich zu meinem Hamster kam.“ Ein Hamsterbesitzer berichtet: In einer Ecke seines Treppenhauses stand ein kleiner verdreckter Gitterkäfig mit zehn Babyhamstern und Mutter. Auf dem Käfig war ein Zettel: „Kann mitgenommen oder ENTSORGT werden“. Ein anderer schreibt, dass er sich zum Geburtstag ein Haustier gewünscht hatte – eigentlich ein Kaninchen, aber dann habe er einen Goldhamster bekommen. Ein dritter holte sich einen Goldhamster aus dem Tierheim. Seine Freundin war anfangs „sehr skeptisch“, wie er schreibt. Ein vierter beschloss zusammen mit seiner Freundin, „ein Tier zu kaufen“. Sie wollte einen Hund; nach langer Überlegung war ihm „aber die Verantwortung und der Aufwand noch zu groß: Ich wollte lieber erst mit was Kleinerem starten – und kaufte einen Goldhamster.“ Ein fünfter kam von etwas Größerem auf das Kleintier: „Meinen ersten Hamster habe ich mir nach einer Trennung geholt.“

Bei all diesen Geschichten steht, wie man so sagt, der Mensch im Mittelpunkt. „Aber da steht er im Weg“, behauptete der VW-Vorständler Daniel Goeudevert. In diesem Fall verdeckt der Halter den Goldhamster. Einer erwähnt immerhin „die knuffige Hamsterdame ‚Lilly‘“. Auf hamsterforum.de werden außerdem Hamster-„Tagebücher“ veröffentlicht. Da berichtet der Goldhamster „Pinky“ dann, was er so treibt und denkt, am 7. Dezember heißt es: „Endlich, sie gibt mir Quark, den ich so liebe – dafür fresse ich heute keine Kabel an!“

Ein anderer Halter schreibt: „Ein kleiner, cremefarbener Teddyhamster eroberte im Dezember 1999 unsere Herzen“, er wurde „Newton“ genannt und bekam einen Tumor, eine Tierärztin musste ihn zweimal operieren, inzwischen zeigt er wieder „durchgehend sein normales Verhalten“.

Der Schriftsteller Dietlof Reiche hat bereits drei Bücher über das „wilde Hamsterleben“ seines „Freddy“ veröffentlicht. Auf den „Buchkritik“-Seiten von hamsterinfo.de wird das Kinderbuch „Ich bin Fritz, der Goldhamster“ von Ria Gersmeier gelobt. Die Autorin und engagierte Tierschützerin hat bisher über eher große Tiere geschrieben – Pferde, Bären, Hirsche, ihr Buch „Johnny, der Setter“ wurde ins Russische übersetzt.

Gruselgeschichten für Pfadfinder

Auf praxis-jugendarbeit.de findet man eine Goldhamster-„Gruselgeschichte“, die sich junge Pfadfinder am Lagerfeuer erzählen sollen: Der kleine Hamster „Goldie“ wurde von seinem Besitzer sehr vernachlässigt. Als er eines Tages aus dem Käfig entweicht und der Junge ihn nicht wiederfindet, träumt er, ein Monster falle über ihn her, es sagt zu ihm: „‚Ich bin Goldie, und ich bin hier, um mich für alles zu rächen, was du mir angetan hast!‘ Die Bestie fletschte die Zähne, riss ihr Maul auf und …“

Der Stern griff zweimal eine reale „Gruselgeschichte“ auf: „Studentin spült ihren Hamster die Toilette runter – weil Spirit Airline ihn nicht an Bord lässt“ und „Studentin behauptet: Spirit Airline forderte mich auf, meinen Hamster die Toilette runterzuspülen.“ Der Goldhamster hieß „Pebbles“, die Studentin hatte „entsetzliche Angst“ und „weinte zehn Minuten“.

Umgekehrt berichtete das Stadtportal berlin.de: „Als ein Patient in der Nacht zu Montag auf dem Gelände des Vivantes-Klinikums Spandau einen possierlichen frierenden Nager entdeckte, rief er kurzerhand die Polizei.“ Diese nahm ihn erst einmal mit auf die Wache und wollte ihn am nächsten Tag ins Tierheim bringen, einer der Polizisten adoptierte ihn jedoch, jetzt lebt der Hamster in Karow.

In dieser Zeitungsgeschichte steht ebenfalls wieder der Mensch, der den herrenlosen Goldhamster mit nach Hause nahm, im Mittelpunkt. Viele Geschichten handeln von weggelaufenen und nach Wochen meist tot in irgendeiner Schrank­ecke wiedergefundenen Goldhamstern. Sie sind Ausbruchskünstler, das ganze Sinnen und Trachten dieser nächtlichen Nager geht dahin.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.