Die Wahrheit: Dann geh doch nach drunten!

Was dieses Bayern in den Achtzigerjahren aus der Sicht eines sehr Westdeutschen war – das Mordor jenseits des Weißwurstäquators.

Neben dem „Drüben“ im Osten, dem Reich des Bösen, das die Freiheit des Westmenschen mit Sowjet-Raketen und Würzfleisch aus Plaste bedrohte, trieb in der Bundesrepublik der achtziger Jahre ein weiteres Schreckgespenst sein Unwesen: das „Drunten“ im Süden. Das Mordor jenseits des Weißwurstäquators. Jenes Land der Bayern, das uns Ahnungslosen als Freistaat des Grauens galt, weil Sachsen noch nicht hinter dem eisernen Vorhang hervorgekrochen war.

Beherrscht wurde der rätselhafte Staat genau wie DDR und BRD von einem Mann mit bizarr undeutlicher Artikulation, was mich nicht weiter verwunderte. Ich war Grundschüler und vor dem Fernseher zur Auffassung gelangt, dass eine behämmerte Aussprache zum Handwerkszeug des Politikers gehörte.

Während unser Häuptling Kohl seine Reden zur Unkenntlichkeit verblubberte, schien sich Honeckers Technokraten-Falsett von verschluckten Silben zu ernähren, die er aus der Wortmitte fräste. Der feiste Bayernkönig wiederum katapultierte die Silben wie Schleimpropfen aus den Bronchien hervor, wobei er die Eruptionen mit komischen Zuckungen seines Leibes unterstützte. Wegen dieser Clownerien war er mir der liebste der drei Herrscher, auch wenn ich sein Reich nie besucht hatte, weil wir im Urlaub immer ans Meer fuhren. Meine Eltern waren entschiedene Gegner der Berge und des Kommunismus, hätten im Zweifelsfall aber Ferien im Ostberliner Politbüro einer Hüttengaudi in Garmisch vorgezogen.

Ich schien der einzige Fürsprecher des Bayernlandes zu sein, denn auch die Peergroup raunte Warnendes von Willkür, Polizeigewalt und Schweinesystem. Nachgerade chilenische Zustände herrschten an Isar und Inn, wussten die weisen Alten vom Raucherhof zu berichten und wiesen mahnend auf die „Stoppt Strauß“-Buttons an ihren Parkas. Der sei noch schlimmer als Kohl, schärften sie mir ein. „Nicht bloß lustiger?“, fragte ich, denn als Fünftklässler war mein kritisches Bewusstsein noch nicht so entwickelt.

Schwestern und Brüder, auf zur Sonne, auf nach Bayern: Diesen Artikel lest Ihr/lesen Sie im Rahmen des weißblauen Sonderprojektes der taz zum 100. Geburtstag des Freistaats Bayern. Unter der zünftigen Federführung des Obermünchners Andreas Rüttenauer haben sich nur die besten bayerischen Kräfte der taz an die Recherche gemacht: alle Texte. Ein Prosit auf Sie und auf uns!

Endgültig verleidet wurde mir Bayern, als ich mich zum Abitur aufraffte. Das bekäme man in NRW vom Kuschelpädagogen geschenkt, wurde ich von allerlei Salonreaktionären belehrt. Der bayerische Abiturient hingegen werde noch mannhaft am klassischen Fächerkanon Kirchenlatein, Patriarchatskunde und Drachenkampf gestählt. „Dann! Geh! Doch! Nach! Drunten!“, skandierte ich als Antwort und ließ mir aus Protest ein besonders mittelmäßiges Abitur schenken.

Dann fuhr ich per Interrail ans Mittelmeer, wobei ich mir auf der Transitstrecke durch Bayern eine Papiertüte über den Kopf stülpte und mich rituell betrank, um die Geister der Reaktion abzuwehren. So halte ich es übrigens noch heute. Was inzwischen aus dem seltsamen Land geworden ist, weiß ich deswegen nicht. Vermutlich ist es wie die DDR, die Bonner Republik oder Atlantis einfach untergegangen.

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kari

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