Die Wahrheit: Flieg, Schmetterling, flieg!

Zurück in die Zukunft: Der ewige Trendforscher Matthias Murks verkündet seinen neuesten Horx und landet in seinen Anfangsjahren.

Ein Schmetterling klettert von der einen Hand zu einer anderen Hand

Gott und Mensch entlassen den Schmetterling Matthias Murks aus seinem engen Kokon Foto: reuters

Wenn es kalt wird in deutschen Landen und Weihnachten all seine kühlen Schrecken ausbreitet und die Menschen sich zwischen den Jahren beim Glühwein aneinanderkuscheln und bang über ihre Zukunft nachdenken, dann krabbelt der Trendforscher aus seiner Höhle, um mit hellseherischem Weitblick allerlei Prophezeiungen vor seinem staunenden Publikum auszubreiten. So hielt es stets auch der weltberühmte Zukunftsforscher Matthias Murks, der dann seinen üblichen Horx verkündete.

Doch im vorigen Jahr war alles anders: „Wo bloß ist der Zukunftsforscher Matthias Murks?“, fragten wir kurz vor Silvester an dieser Stelle (Die Wahrheit vom 28. 12. 2018). Murks hatte sich seltsamerweise bei keinem der gängigen Medien gemeldet, um den Menschen ein Licht anzuzünden. Er war untergetaucht. Jetzt wissen wir auch, warum: Er hat an einem neuen Buch gearbeitet, das so schwergewichtige Gedanken enthält, das es erst jetzt fertig geworden ist. Und so durfte Murks am gestrigen Dienstag der Nachrichtenagentur dpa zum Herbstanfang 2019 ein Interview geben, in dem er der Weltöffentlichkeit die frischen Trends präsentierte.

Jahrelang hatte Murks Trend um Trend gesetzt und war dahin gegangen, wo es weh tat: in die Spitze seines Kopfes. Dann war für ihn zum Beispiel der wichtigste gesellschaftliche Trend des Jahres 2004 die „Schnäppchenkultur“. Vermutlich weil er gerade einen billigen Gedanken erworben hatte. Zwölf Monde später erklärte er: „Gärtnern als neue Hobbybeschäftigung kommt ganz groß im neuen Jahr.“ Wahrscheinlich hatte er sich gerade mit all den Trends einen eigenen Garten zusammengespart.

Manchmal lag er dann auch schon einmal völlig daneben, als er beispielsweise im Jahr 2001 festlegte: „Das Internet wird kein Massenmedium – weil es in seiner Seele keines ist.“ Zugleich bescheinigte er dem Internethandel keine Zukunft. Mutmaßlich weil ihm irgendetwas nicht rechtzeitig geliefert worden war.

Kuschelsex ist out

Für das Jahr 2007 versprach der Trendträumer dann allen Freunden des alten Rein-raus-Spiels, dass Kuscheln nicht mehr in sei: „Kuschelsex wird durch eine erotische Inszenierungskultur abgelöst.“ Offenbar hatte er einen neuen Betthasen gefunden, dessen intime Aktivitäten er routiniert mit dem gespreizten Wichtigwort „Kultur“ verband – und fertig war der Jahrestrend.

Und so ging es durch die Dekaden mit ihren Schlagworten, die sich Murks genüsslich aus den Fingern sog. Das Jahr 2013 erklärte er zum Jahr der „Europhorie“: „Es spricht viel dafür, dass sich die Länder in Europa zusammenraufen.“ Was wir ja bis heute genau so beobachten dürfen. Und als eben dies nicht eintrat, wandte er sich den Metropolen zu und wusste 2014, dass es zu einer „Urbanisierung“ des Lebens kommen würde – mit einer originellen Begründung für Stadtflucht: „Das schafft Platz für Natur und Landwirtschaft.“ Von der um sich greifenden „Landlust“ der Städter hatte er offenbar noch nie etwas gehört.

Schließlich, als Matthias Murks schon alt und runzlig wie sein jährlicher Horx geworden war, verkündete er arg geschraubt den Trend zur „Seniorität“ und appellierte an die Menschheit, „Weisheit und Seniorität als Lebensziel anzunehmen“. Leider setzte sich der heute 64 Jahre alte Soziologe daraufhin nicht zur Ruhe, sondern trieb es munter weiter bis gestern, als ihn die dpa rief und die Geister erschienen wie gewohnt.

Geschickt jongliert Matthias Murks im aktuellen Interview mit den Begriffen, die er sich für sein Buch „15½ Regeln für die Zukunft“ selbst in die Feder diktiert hat. Da ist viel von Untergang und Erlösung die Rede. Und Murks entdeckt dabei etwas ganz und gar Verblüffendes: „Ein interessantes Phänomen ist das sogenannte Angst-Cocooning.“ Die Menschen würden gar in ein „Apokalyptisches Cocooning“ verfallen. Ach, wirklich? Ausgerechnet das uralte „Cocooning“? Es ist zum Schreien kokomisch!

Da kommt Matthias Murks in seinem Alterswerk mit jenem Begriff, der ihn sein Leben lang verfolgt wie die Stadt den Mörder M. Hatte er doch bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert in seinem Buch „Trendbuch 1“ (Düsseldorf 1993) die Floskel ins Deutsche eingeführt. Zuvor hatte er ihn selbstverständlich in Amerika gestohlen – von der Trendforscherin Faith ­Plotkin, die sich ganz im Sinne der spaßigen achtziger Jahre Faith Popcorn nannte und den Begriff entwickelt hatte. „Cocooning“ beschreibt laut Lexikon eine Verhaltensform, die im Rückzug von der komplexen, bedrohlichen und unkontrollierbaren Umwelt in die eigenen vier Wände besteht.

Der neueste Trend ist Retro

Wie hatte Matthias Murks bereits im Jahr 2011 in einem Gespräch mit der dpa gesagt, als er seinen neuesten Trend ­„Retro“ verkündete? „Die Mode, die Musik, die Gedanken – alles dreht sich um eine Idealisierung der Vergangenheit, die angeblich besser war als die Gegenwart. Das wird weitergehen. Die Zukunft und das Nach-vorne-Schauende stehen nicht so hoch im Kurs.“ Wie immer eine horxartige und hochgradige Selbstbeschreibung.

Im Herbst des Jahres 2019 ist Matthias Murks also wieder bei seinen Anfängen angekommen. Eine Art Cocooning-Cocooning. Seine fein gesponnenen Gedanken haben einen engmaschigen Kokon gewebt, aus dem er seit Jahrzehnten nicht herauskommt, und wenn er einen Faden aufnimmt, endet der wie Ariadnes am Eingang seines Lebenslabyrinths. Aber irgendwie muss ja auch ein Matthias Murks die Miete für seine Höhle bezahlen. Und wenn er nur immer neuen Unfug rückerfindet.

Aber was kann nach dem Selbstkreislauf des Cocoonings noch kommen? Was kann die Menschheit 2019 demnächst zwischen den heimeligen Jahren aus der Trendhöhle erwarten? Vielleicht sprengt Matthias Murks ja endlich seinen Kokon und erhebt als weiser Schmetterling seine Schwingen in der Dämmerung. Ja! Das wird der Trend 2020: „Butterflying“. Statt Flugscham wird der neueste Horx die „Inszenierungskultur butterweicher Landung im Hier und Jetzt“ sein. Wie Murks es ausdrücken würde.

Aus lauter Vorfreude singen wir jedenfalls hier schon einmal ganz retro zu Ehren von Matthias Murks und seinem Horx einen Schlager aus seiner Jugend: „Jedes Wort von dir klang wie Musik / und so tief wie die See war das Glück / Eine Welt voll Poesie, die Zeit blieb für uns stehn // Butterfly, my Butterfly, / jeder Tag mit dir war schön // Butterfly, my Butterfly, / wann werd ich dich wiedersehn …“

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