Die Wahrheit: Leiden auf vier Rädern
Das neue Verkehrssyndrom: Erhöhter Parkdruck sorgt für starken seelischen Gebietsverlust.
Um sieben Uhr morgens beginnt für Marcel der tägliche Wahnsinn. Nicht, weil der Hamburger Berufsverkehr schon wieder megadicht ist. Auch nicht, weil es regnet oder keine Zeit für eine Tasse Kaffee blieb. Sondern weil der 38-jährige Eimsbüttler, nur um zur Arbeit zu gelangen, seinen Parkplatz aufgeben muss – ohne zu wissen, ob er ihn abends wiederbekommt.
Marcel leidet unter erhöhtem Parkdruck. Eine Stresserkrankung, die, ausgelöst durch den stetig schrumpfenden Parkraum, immer mehr Kfzler befällt. In dichtbesiedelten Stadtvierteln, aber auch auf dem Land werden Autofahrer von dem beklemmenden Gefühl beherrscht, keinen Platz mehr im eigenen Kiez zu finden. Verkehrspsychologen sprechen von einer Art seelischem Gebietsverlust. Für die Betroffenen ist es „schlichtweg die Hölle“, wie Marcel es ausdrückt.
„Ich wache morgens auf und mir rast das Herz“, sagt er, während er aus der Haustür tritt. Der kurze Weg zu seinem BMW gleicht einem Spießrutenlauf. Jeder fremde Wagen eine Provokation. Der Autoschlüssel zittert in seiner Hand, als er die Fahrertür öffnet und den Motor startet. Und spätestens, wenn der Parkplatz unter den Rädern seines Wagens verschwindet, kennt er nur noch diesen einen Gedanken: „Ich werde ihn verlieren.“
Marcel arbeitet in Hamburg-Billstedt. Eine Strecke von rund zehn Kilometern, die andere mit der Bahn oder dem Bus zurücklegen. Tatsächlich gibt es in seiner Straße eine Bushalte. Doch wie für Millionen seiner Leidensgenossen ist für ihn das Auto mehr als nur Transportmittel. Es ist sein vierrädriger Gefährte, sein persönlicher Schutzraum – aber eben auch: Ursache seines Leidens.
Hupen, hupen, hupen
Schon nach wenigen gefahrenen Metern setzt bei Marcel die erste Symptomatik ein: unkontrolliertes Hupen. Eine Mutter mit Kind braucht etwas länger auf dem Zebrastreifen? Marcel hupt. Ein Radfahrer schwenkt zu weit nach links? Hupen. Und er hupt auch, als vor ihm jemand ausparkt – doch wohl nicht, um in Marcels Gegend zu fahren und ihm dort den einzig freien Parkplatz streitig zu machen? Marcel kann nicht anders, als so zu denken.
Jetzt steht er vor einer roten Ampel. Und muss in der Nase bohren. Nicht nervös, sondern exzessiv, – „um irgendwie ein Ventil für meinen Verlust zu finden“. Dann, an einer Baustelle, staut sich der Verkehr. Marcel fährt dicht auf den Vordermann auf, betätigt die Lichthupe, wieder und wieder. Es wirkt wie ein Verdrängungskampf auf kleinstem Raum.
Dann biegt er ab, ohne den Blinker zu setzen („Ich will anderen doch keine Hinweise geben!“), sucht den Schleichweg durchs Wohngebiet, lässt neben einer Radlerin die Scheibe runter, brüllt: „Mach Platz, du dumme Fotze!“ Auch das gehört zu seinem Krankheitsbild.
Vor einem halben Jahr begann er deshalb eine Therapie. „Ich sollte mein Auto stehen lassen und die Öffis nehmen“, sagt er. „Aber ich kann das nicht. Wenn ich nur daran denke, jemand könnte mir im Bus meinen Sitzplatz wegnehmen.“ Seitdem dreht sich alles nur noch ums Wiedereinparken. „Schon morgens male ich mir aus, wie ich abends durch mein Viertel eiere, auf der Suche. Ich denke an jede Straßenecke, jede Einfahrt, jeden abgesenkten Bordstein.“
17 Uhr, Feierabend. Der Parkdruck ist jetzt besonders stark zu spüren. Ein unerträgliches Ziehen hinter den Schläfen. Doch an diesem Tag hat Marcel Glück. Schon nach dreizehn Suchrunden findet er eine freie Lücke, nur 70 Meter von seiner Wohnung entfernt. Er bleibt anschließend lange im Wagen sitzen. Kein Hupen. Nur Stille.
Im Auto übernachten
Aber diese Momente werden seltener. Mehrmals bereits musste Marcel im Auto übernachten, weil er einfach nichts fand. Zu weit weg kann er nicht parken – zu groß ist die Angst, sich zu verlaufen. „Ich cruise nicht durch halb Hamburg, um dann zu Fuß durch Ottensen zu irren! Ich bin doch kein Stadtplan.“
Selbst wenn er endlich einen Platz findet, bleibt die Angst: vor Knöllchen, Abschleppen, Lackkratzern. Voriges Jahr dann tatsächlich: ein Strafzettel unterm Scheibenwischer. Für ihn der Super-GAU: „Das Wissen, jemand hat mein Auto angefasst. Das war entwürdigend. Als wäre einer in meine Wohnung eingedrungen.“
Vor einigen Monaten erst ist er hierher gezogen. Nachdem vor seiner alten Wohnung mehrere Stellplätze zu Fahrradparkzonen umgewandelt, dazu auf die Fahrbahn ein roter Radweg gepinselt wurde. Als Marcel sah, wie Arbeiter überall Fahrradbügel aufstellten, fiel er einfach um: „Herzrasen, kalter Schweiß, Kreislauf.“ Diagnose: „Akuter Parkdruck mit Panikkomponente.“
Marcel ist kein Einzelfall. Immer rasender greift die Krankheit um sich. Längst ist ein öffentlicher Stellplatz in Deutschland kein selbstverständlicher Komfort mehr, sondern für immer mehr Menschen eine Frage des nackten Überlebens.
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