Die Wahrheit: Schützt den Heidelhorster Huddelbätz!
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Originale“ (3): Kinder zeugen mit Ansage und Zuckerguss – unter dem regionalen Schutzschirm der EU.
Es gibt Menschen oder Dinge, die sind einzigartig. Wahre Originale oder Unikate. Die herausragen aus dem flachen Tal des grauen Alltags. Und dennoch nicht sofort in ihrer außergewöhnlichen Schönheit oder überraschenden Wirksamkeit erkannt werden. Aber dafür gibt es ja die Wahrheit. Die einige Exemplare dieser irisierenden Ausnahmeerscheinungen ins strahlende Licht der Wahrnehmung rückt.
Margarethe Mutschel ist selig. Die 69-jährige Heidenauerin gehört zu einer traditionsreichen Familie, deren Ursprünge bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen. Damals war es in der baden-württembergischen Ortschaft üblich, Kinder am Donnerstag nach dem Dreikönigstag zu zeugen – oder, wie man sagte, zu „mutscheln“. Als Zeichen der erfolgreichen Befruchtung hängte man ein „Mutschelbrot“ an die Haustür, ein längliches, mit Zuckerguss überzogenes Gebäck aus Hefeteig.
„Meine Eltern haben das bei meiner Zeugung auch noch so gemacht“, erzählt die Rentnerin und serviert zum Kaffee selbstgemachtes Mutschelbrot. „Bisher hat sich ja niemand für unseren Ei- … äh, Ursprung interessiert. Aber das soll nun anders werden“, sagt die Heidenauer Hobbybäckerin.
Denn die Europäische Union will Menschen, die für das besondere Erbe des Kontinents stehen, auf spezielle Weise würdigen. Dafür werde eine neue Bezeichnung eingeführt: „Das Merkmal ‚geschützte geografische Herkunft‘ gewährleistet, dass die jeweilige Person in der besagten Region oder Ortschaft gezeugt, geboren und aufgezogen wurde“, heißt es in der entsprechenden EU-Verordnung 9991/2025. Dies gelte „insbesondere für benachteiligte oder entlegene Gebiete sowie für Bergregionen“.
Stolz mit Siegelring
Als „Original Heidenauer Mutschel“ stehen die Rentnerin und ihre Familie nun unter besonderem Schutz – als Zeichen trägt sie einen Ring mit dem EU-Siegel „Zertifiziertes Unikum“, kurz ZUK. Die drei Buchstaben stehen, hübsch ineinander verschlungen, innerhalb der Umrisse des Kontinents. „Das erfüllt mich mit Stolz“, sagt Mutschel. Auch ihre drei Kinder und acht Enkelkinder tragen den Siegelring. Denn natürlich wurden auch sie an einem „Mutscheltag“ gezeugt.
„Wir sind alle untrennbar mit unserer Vergangenheit verbunden“, sagt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Das menschliche Erbe Europas ist das direkte Ergebnis dessen, was unsere Vorfahren getan, bewirkt und entschieden haben. Es ist die Keimzelle für Identität und Zugehörigkeit. Doch dieses Erbe ist bedroht, es wird zur Zielscheibe von Konflikten – wie wir in der Ukraine sehen.“ Auch die Globalisierung und der demografische Wandel trügen dazu bei, dass „transgenerationale Originale“ verlorengingen. Dies gelte es zu verhindern.
Die Liste der geschützten Unika umfasst bislang 79 Eintragungen aus Deutschland, darunter finden sich etwa der Heidelhorster Huddelbätz, der Stockhuder Schlumbl sowie die Buttendorner Kaujohle. „Früher waren Kinder eine Art Nebenprodukt, wenn die Bauern sich zu Hausschlachtungen zusammentaten, da ging es immer hoch her“, erzählt Holger Kaujohle beinahe neidisch. Der 58-Jährige ist Bürgermeister im niedersächsischen Buttendorn und mit der Tradition des Ortes bestens vertraut.
„Wenn es ein Mädchen wurde, schenkte man den Eltern unter lautem Gejohle einen Kringel Kopfwurst, die aus Fett und Schwarten von Rinder- oder Schweineköpfen bestand. Da hatte man lange dran zu kauen.“ Und bei einem Jungen? „Gab es einen Krug Mumme, obergäriges Bier. Aber nur für die Bäuerin, die hatte ja nach der Geburt auch ordentlich Brand.“
Würdigung mit Klaps
Der von Amts wegen zuständige Bundesminister für Heimat, Alois Rainer, übt jedoch Kritik an der Initiative. Bayerische Traditionen kämen viel zu kurz. „Was ist mit den Immerhofer Ofenschlupfern? Das waren Hausgeburten im Kachelofen, ein ganz seltenes Ritual, das muss doch gewürdigt werden! Oder die Aschenberger Beulchen, da hat man Neugeborenen keinen Klaps auf den Hintern gegeben, sondern eine Backpfeife.“ Rainer lacht. „Konnten sie sich gleich dran gewöhnen.“
Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, lobt hingegen das Vorhaben der EU: „Damit stärken wir Heimatgefühle. Das sind schöne Gefühle. Schon als Jugendlicher habe ich im kirchlichen Bläserkreis und beim Mitwirken am Dorfleben viel fürs Leben gelernt.“
Bislang eher weniger bekannt sei, dass er „als Cousin dritten Grades“ der Familie der „Pfeffenhausener Hornochsen“ entstamme, die im mittelalterlichen Niederbayern Angst und Schrecken verbreitete. Besonders die Männer mit ihren charakteristischen Backenbärten und den gehörnten Helmen seien gefürchtet gewesen – aber nur bei den Reichen.
„Sie stellten sie vor die Wahl: Kind oder Rind! Dann nahmen sie den schönsten Ochsen von der Weide und schenkten ihn den Armen.“ Weber schüttelt verständnislos den Kopf. „Das macht heute natürlich niemand mehr.“ Er hebt seine rechte Hand. Aber es sei ihm eine Ehre, als „Original Hornochse“ den Siegelring tragen zu dürfen.
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