Die Wahrheit: Gebrauchsanweisung für meine Eltern
Um den Nachwuchs zu verstören, entwickeln gerade betagte Altvordere höchst originelle Zwangshandlungen.
Wie das Wort bereits nahelegt, werden meine Eltern immer älter. Bereits angelegte schrullige Tendenzen verhärten sich dabei zu den absonderlichsten Marotten. Dem liegt der an sich verständliche Wunsch zugrunde, die Herausforderungen des Alltags zu zähmen, zu ordnen und zu ökonomisieren.
Zu diesem Zweck werden sämtliche Verrichtungen in immer skurrilere Korsette aus festgelegten Handlungsmustern gezwängt, die so wenig Spielraum lassen, dass selbst religiöser Fundamentalismus dagegen wie der unverbindliche Vorschlag eines bekifften Freaks wirkt.
Dabei gibt es, wie auch im Ursprung aller Religionen, vergraben unter all dem erstarrten Mumpitz, stets auch Restspuren praktischer Bezüge. Da meine Mutter zusehends erblindet, ist es tatsächlich sinnvoll, die Küchenutensilien immer genau am gleichen Ort zu platzieren.
Notbefugt am Fremdgerät
Doch in den meisten Fällen frisst der Wahn den Nutzen. So scheint für meine Eltern – scheiß auf Atomkrieg oder Tod – die schlimmste Vorstellung überhaupt zu sein, der Wasserkocher könne verkalken. Ursache der Katastrophe ist, wie sie nicht müde werden zu betonen, das in ihrer Region besonders kalkhaltige Wasser. Dabei schimmert stets eine Art diebischer Stolz durch, wie auf ein unberechenbares, aber irgendwie talentiertes Pferd, das nur sie allein beherrschen können.
So wird dem nur notbefugten Gerätfremden vor jeder Benutzung im Duktus eines Kampfmittelbeseitigungsmeisters gegenüber seinem Lehrling eingeschärft, die zu kochende Wassermenge exakt abzumessen. Als Abfallprodukt eines allzu fahrlässigen Messvorgangs eventuell vorhandenes Restwasser – was ja in Gottes Namen vorkommen kann, wenn auch eigentlich nicht darf – muss nach Gebrauch des Kochers umgehend entsorgt werden, da im Falle der Nichtbeachtung die Verkalkung auf der Stelle mit der Wucht eines Naturdesasters einsetzt.
Extrem tricky ist für Uneingeweihte auch das korrekte Befüllen der Spülmaschine. Jedes Teil hat exakt seinen Platz, andernfalls explodiert wahrscheinlich alles. Kein unbeholfener Versuch Normalsterblicher findet vor den Augen meines Vaters Gnade, der wegen des Zustands meiner Mutter zum alleinigen Herrn über die Teufelsmaschine aufgestiegen ist. Das Runde muss ins Eckige, das Eckige ins Runde, oben kommen die Sachen für unten rein, und unten die für oben. Ausnahmen oder Änderungen sind nicht vorgesehen, untersagt, verboten.
Verunsichert am Besteckkorb
Neuerdings fährt mein sonst eher gutmütiger Vater mich grob an, sobald ich auch nur einen Teelöffel eigenständig in den Besteckkorb stellen will. Das nehme ich aber nicht persönlich, denn ich weiß, dass älteren Menschen zunehmend die Modulationssteuerung ihrer Gefühlsäußerungen verschüttgeht. Werden ihre Routinen gestört, bricht sich recht unkontrolliert eine tiefe Verunsicherung Bahn, die seit Kindestagen in ihnen schlummert. Die Unordnung triggert Urängste. So weckt die falsch eingeräumte Untertasse vermutlich Erinnerungen an Bombennächte, Flucht und Vertreibung.
Noch mehr kann man beim Einkauf falsch machen. Biete ich meine Hilfe an, empfiehlt es sich dringend, sämtliche Anweisungen akribisch zu befolgen. Alles andere wäre nämlich ein Anschlag auf das seelische Wohlbefinden meiner Eltern.
Denn auch der richtige Käse, die richtigen Kartoffeln, das richtige Brot müssen im jeweils dafür vorgesehenen aka „richtigen“ Geschäft besorgt werden – anderes kann man im Grunde nicht essen. Warum es überhaupt weitere Waren gibt, und wer die kauft, weiß man nicht und möchte es lieber auch nicht wissen. Bestenfalls sind solche Menschen harmlos, aber äußerst dumm.
Nur richtig vom Hutzelweiblein
Das richtige Brot wird morgens in der Bäckerei bestellt. Man lässt es sich zurücklegen, damit es kein Unbefugter stiehlt. Denn nichts anderes als Diebstahl wäre das, zwar nicht am Bäcker, aber an meinen Eltern. Für den richtigen Käse steht man am Markttag am richtigen Stand an, wo man immer den gleichen Käse kauft. Der Käse ist gut. Anderer Käse ist schlecht, ungenießbar, giftig. Kurz, er ist unrichtig.
Der Kauf des richtigen Gemüses ist zwingend in dem Gemüseschuppen eines uralten Hutzelweibleins vorzunehmen. Wenn die gute Frau in absehbarer Zeit die Möhren von unten segnet, wird es das mit dem richtigen Gemüse gewesen sein. Schade, wegen Skorbut und so, aber im Supermarkt kann man kein Gemüse kaufen. Dieser krank machende Fake aus der Hölle ist kein richtiges Gemüse.
Aufschnitt gibt es jetzt schon nicht mehr, denn der richtige Metzger hat seinen Laden dichtgemacht und die richtige Wurst gleich mitgenommen. Die beiden anderen Metzgereien taugen nichts. Man war noch nie dort, was ja beweist, wie wenig sie taugen. Dazu heißt es verächtlich, sie nähmen „Apothekenpreise“. Apropos. Eher würde man sterben, als im Dorf in die falsche Apotheke zu gehen. Dort war 1974 nämlich mal jemand pampig zu meinen Eltern gewesen. Seitdem ist die richtige Apotheke woanders.
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