Die Wahrheit: „Last Christmas“ und die Göttin des guten Geschmacks
Wer kennt eigentlich den anderen von Wham!, die einst in den Achtzigern die Übermutter aller Weihnachtshits schufen? Ein Treffen mit Andrew Ridgeley.
I mmer, wenn ich „Last Christmas“ höre, also unvermeidlicherweise immer in der Vorweihnachtszeit, muss ich an Andrew Ridgeley und seinen manikürten Zeigefinger denken. Andrew Ridgeley war nicht George Michael, sondern „der andere“ von Wham! und damit im Grunde zu einem tragischen Mauerblümchendasein verbannt. Vor einiger Zeit hatte ich mal das Vergnügen, ihm in einem Luxushotel persönlich zu begegnen. Er wirkte überhaupt nicht wie ein „Has Been“, im Gegenteil.
Seine Haut hatte die Farbe olympischer Bronze, seine professionell gestutzten Koteletten wirkten wie versilbert. Er trug einen tropenholzfarbenen Anzug von der Savile Row und ein papageiengrünes Einstecktüchlein aus Seide, das allein wohl mehr gekostet haben dürfte als mein Flugticket nach London hin und zurück. Halb soignierter Gentleman, halb letzter Enkel des Maharadschas von Udaipur. Die Times, mit der er das Hotelzimmer betreten hatte, war zuvor im Klub frisch gebügelt worden.
Wir plauderten ein Weilchen über das Talent von George Michael, die wilden Achtziger und die geschickten Vermögensstrategien, mit denen Andrew Ridgeley seit vier Jahrzehnten das Talent von George Michael vergoldet und seine eigenen Einkünfte aus den Achtzigerjahren vermehrt hatte. Auf „Last Christmas“ angesprochen, schenkte er mir ein strahlendes Lächeln.
Er selbst habe damals rein gar nichts zu dieser Übermutter aller Weihnachtshits beigetragen und es nur der Großzügigkeit von George Michael zu verdanken, der ihn damals als „Co-Autor“ eingetragen habe, dass seitdem alljährlich „im Frühling, wenn die Tantiemen aus dem Vorjahr auf dem Konto landen“, eine „signifikante Delle nach oben“ zu verzeichnen sei. Mit seinem manikürten Zeigefinger zeigte er mir die Delle an. Sie war wirklich signifikant.
Diese Zeilen schreibe ich am Mittag des 22. Dezembers und kann noch immer nicht fassen, dass ich „Last Christmas“ diesmal – und erstmals seit 1984 – komplett entgangen bin. Ich habe es bisher einfach nicht gehört. Nicht im Autoradio, nicht im Supermarkt, nicht auf unergründlichen Ratschluss des Algorithmus, nirgends, nie. Es ist, als wäre eine biblische Plage einfach vergangen, als hätte die Göttin des guten Geschmacks meine Gebete erhört – als könne doch noch alles gut werden in der Welt.
Als ich neulich einer Zwanzigjährigen von meinem Glück erzählte, schaute sie mich nur verständnislos an. Sie habe „Last Christmas“ erst neulich wieder gehört. Das arme Kind! Im Radio? Bei Instagram? Tiktok? Auf meine bestürzten Nachfragen schüttelte sie nur den Kopf. Ihr sei halt „weihnachtlich“ zumute gewesen, da habe sie den Song einfach auf Spotify abgespielt. Freiwillig. Bewusst. Mehrfach. Warum denn auch nicht? Hä?
Um Andrew Ridgeley, glaube ich, muss man sich auch die nächsten 40 Jahre keine Sorgen machen.
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