Die Wahrheit: Pudding, Pingpongbälle und anderes...

Schulspeisung – welch grässliches Wort. Es klingt nach Turnhallenschweiß, Blechnäpfen, Gummifleisch und leimiger Sauce.

Schulspeisung – welch grässliches Wort. Es klingt nach Turnhallenschweiß, Blechnäpfen, Gummifleisch und leimiger Sauce. Ich weiß das, denn zu meiner Studentenzeit habe ich ein Jahr an einer Belfaster Schule als Deutsch-Assistent gearbeitet und kam mehrmals in der Woche in den Genuss dieser Speisung. Um wegen meines kärglichen Gehalts die Kosten für die warme Mahlzeit zu sparen, meldete ich mich freiwillig zur Essensaufsicht, denn als Lohn durfte man kostenlos mit den Schülern essen. Die aßen jedoch kaum, sondern funktionierten die elastischen Fleischbällchen zu Wurfgeschossen um, die wie Pingpongbälle durch die Halle hüpften, bis einer auf dem Tisch des Schuldirektors landete, was der meiner mangelhaften Aufsicht zuschrieb und den Schülern den Nachtisch strich. Das ertrugen sie mit Freude.

Zum Nachtisch gab es nämlich jeden Tag „Custard“, eine aus Pulver hergestellte Vanillesauce. Die klebrige Masse wurde über alles geschüttet: Kuchen, Eiscreme, Apfelsinen. Zu jener Zeit schlug der Finanzberater der US-Regierung von Ronald Reagan vor, Ketchup als Gemüse zu deklarieren, um die ohnehin niedrigen Anforderungen an das Schulessen billiger zu erfüllen. An meiner Schule galt „Custard“ vermutlich als Gemüse.

Eigentlich sollte die Schulspeisung seitdem verbessert werden. Der Fernsehkoch Jamie Oliver hatte vor ein paar Jahren eine Kampagne gegen Fast Food ins Leben gerufen, worauf die Regierung zusätzliche 280 Millionen Pfund für die Mahlzeiten locker machte. Sogleich organisierte sich eine Gegenbewegung von Eltern, die mehr Fast Food forderten, weil das schließlich zur britischen Grundnahrung gehöre. Es kam zu einem breiten Broccoli-Boykott.

Viel hat sich seit meiner Zeit an der Belfaster Schule offenbar nicht geändert. Die schottische Schülerin Martha Payne hatte in ihren Internet-Blog täglich ein Foto der Schulmahlzeit gestellt. Außerdem stufte sie das Essen auf einer Güteskala von eins bis zehn ein, bewertete den Nährstoffgehalt und notierte die Anzahl von Haaren, die sie im Essen fand. Daraufhin untersagte die Stadtverwaltung der neunjährigen Restaurantkritikerin, die Mahlzeiten zu fotografieren, weil die Küchenangestellten um ihre Jobs fürchteten.

Die Kommunalpolitiker hatten jedoch nicht mit Marthas Fangemeinde gerechnet. Der Blog hatte täglich zwei Millionen Besucher, darunter auch Jamie Oliver, der Martha ein signiertes Exemplar seines Kochbuchs schickte. Das Mädel hatte mit Hilfe ihres Blogs Spenden in Höhe von 3.000 Pfund für „Mary’s Meals“ gesammelt, eine Wohlfahrtsorganisation, die Schulspeisungen in armen Ländern organisiert. Nach dem Verbot stiegen die Besucherzahlen auf 6,5 Millionen, das Spendenaufkommen auf 95.000 Pfund, und es setzte eine Zensurdebatte ein, an deren Ende die Stadtverordneten klein beigeben mussten. Martha darf jetzt wieder das überschaubare Erbsen-Mais-Gemüse, den frittierten Chicken-Nuggett und den „Custard“ fotografieren, mit dem den Schülern immer noch die Geschmacksnerven zugekleistert werden.

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Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net

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kari

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