Die zukunftsentscheidenden Fragen: Worum es jetzt gehen muss

21 Vorschläge, was in einen Koalitionsvertrag mit Zukunft unbedingt rein muss. Von Bild-Zeitungslesern, Waldorfschülerinnen, Uwe Schneidewind, Ulf Poschardt, Eckart von Hirschhausen, Ulrike Guerot u.v.a.

Bild: Daniel Reinhardt dpa

Wir haben folgende Frage gestellt:

»Welcher Satz darf in einem Koalitionsvertrag mit Zukunft nicht fehlen?«

Oder nennen Sie uns Ihren grundsätzlichen, zentralen Punkt, der bei der Bundestagswahl nicht oder ungenügend zur Sprache kommt.

Hier sind die Antworten.  

Hannes Jaenicke, Schauspieler und Umweltaktivist:

»Ein echtes Bekenntnis zum Thema Nachhaltigkeit. Unsere Klimakanzlerin a. D. und ihre gesamte Regierungskoalition ergehen sich in Sprechblasen zum Thema, und nichts passiert. Weder beim Thema Kohle und fossile Brennstoffe, Plastikmüll, Glyphosat, nicht bei Auto- und Agrarindustrie. Nachhaltigkeit gehört ins Grundgesetz und sollte als Pflichtschulfach ab der Grundschule eingeführt werden. Weiter gehört in den Koalitionsvertrag die überfällige Aufwertung sozialer Berufe wie Erzieher/-innen, Kranken- und Altenpflegepersonal etc.«

Jonas Lüscher, Schweizer Schriftsteller (Kraft):

»Frei nach Adolf Muschgs Satz in der Präambel der Schweizer Bundesverfassung schlage ich vor, dem kommenden Koalitionsvertrag folgende Präambel voranzustellen: Der Erfolg der Koalition misst sich am Wohl der Schwachen.«

Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie:

»Eine konsequente und langfristig kontinuierlich steigende CO2-Bepreisung.«

Jan Feddersen, taz-Redakteur und Publizist:

»Frag nicht, was nicht geht. Sondern was gehen kann – denn Zurückhaltung über den Modus der Nörgelei ist das, was politisch alles lähmt.«

Ulf Poschardt, Chefredakteur Welt, Welt am Sonntag und N24:

»Die Bundesregierung wird in der nächsten Legislatur die Steuergesetzgebung derart radikal vereinfachen, dass kein Bundesbürger mehr als eine Stunde im Jahr damit zubringen muss. Die freiwerdenden Liegenschaften der Finanzbürokratie werden zu Schulen und Kitas umgebaut. Die dadurch gesparten Milliardenaufwendungen werden zu einem Drittel für die Bildung, einem weiteren Drittel für die Digitalisierung der Steuererklärung und zu einem Drittel als Rückzahlung an die unglaublich geduldigen deutschen Steuerzahler genutzt.«

Jonas Lage, 26, Container-Diver, der aus den Abfallbehältern der Supermärkte Lebensmittel rettet, verzichtet auf Autofahrten, Urlaubsflüge, Fleisch:

»Erbschaften: Überführung von Unternehmen in Mitarbeiter/-innen-Hand bei Vererbung in Form von Genossenschaften, Kooperativen oder Ähnlichem mit dem Ziel einer Demokratisierung der Ökonomie für eine wirklich demokratische Gesellschaft. Damit wird auch das Problem gelöst, dass das Kapital im Unternehmen gebunden ist, weshalb Erben häufig das Unternehmen verkaufen müssen, damit es weitergehen kann.«

Milena Glimbovski, Gründerin von Original Unverpackt – einem Laden und Onlineshop, der ohne Einwegver-packungen auskommt:

»Einwegprodukte haben einen hohen CO2-Fußabdruck und sollten daher eine steuerliche Benachteiligung erfahren. Dazu zählen Produkte wie Plastikflaschen, Coffee-to-go-Becher, Einweggrills. Oder um es positiv auszudrucken: steuerlicher Vorteil für nachhaltigere Alternativen, die auf Mehrweg aus sind.«

Tadzio Müller, Rosa-Luxemburg-Stiftung:

»Der Klimawandel ist die größte Gerechtigkeitskrise, vor der die Menschheit je stand. Deswegen ist das Einhalten der ambitionierten Pariser Klimaziele – sprich: die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad zu begrenzen – vollkommen alternativlos. Dementsprechend verpflichtet sich die Bundesregierung, Schritte einzuleiten, die es uns erlauben, diese Ziele zu erreichen. Der erste Schritt auf diesem Weg ist ein schneller Kohleausstieg bis allerspätestens 2030, wobei der Großteil der dreckigen Braunkohlekraftwerke schon 2020 vom Netz muss.«

Thomas Niehr, Sprachwissenschaftler und Professor an der RWTH Aachen:

»Nachhaltigkeit ist das Zukunftsthema schlechthin. Insofern sollte es prominent in allen Koalitionsverhandlungen, Regierungserklärungen, Parteiprogrammen thematisiert werden. Schaut man sich die Wahlprogramme verschiedener Parteien an, sieht man jedoch, dass dieses Thema nur von wenigen Parteien mit Nachdruck vertreten wird. Was die Sprache angeht, so ist es interessant, dass die eher im linken Spektrum zu verortenden Parteien den Ausdruck ›Geflüchtete/r‹ verwenden, den man in den Wahlprogrammen von CDU und FPD nicht findet.«

Eduard Teske, 65, Verkäufer der Obdachlosenzeitschrift Straßenfeger in Berlin. Eigentlich Elektromontierer, aber schon viele Jahre ohne Arbeit, kriegt 330 Euro Rente, wohnt bei seiner Freundin, wäre sonst obdachlos, steht jeden Tag vor den Schönhauser Allee Arcaden:

»Das Thema Flüchtlinge kommt zu kurz. Da soll uns mal einer erklären, wie wir die alle aufnehmen sollen. Bei Bürgerkriegsflüchtlingen finde ich es ja ok, aber bei Wirtschaftsflüchtlingen hört es auf. Wir sollten sieben nach Qualifikation. Es wird zu wenig über die Konsequenzen nachgedacht. Und den Schleppern spielt das noch in die Hände. In Libyen sollte man Flüchtlingslager errichten und dort gleich prüfen, wer wirklich schutzbedürftig ist. Die Italiener sind die Leidtragenden. Ich mach mir Sorgen, wo das noch alles hinführen soll. Die Kriminalität hat hier, wo ich stehe, in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Das sind vor allem Taschendiebe, ja ganze Banden, vor allem aus Rumänien und der Ukraine. Ich fotografiere und dokumentiere das alles. Manche Fotos habe ich schon der Polizei übergegeben als Beweismittel. Alles ist zu Hause auf meinem Rechner gespeichert.«

Jan K., BILD-Leser, 38 Jahre alt, Beamter in einem Bundesministerium:

»Ein Thema, das eindeutig zu kurz kommt: wie wir die Massentierhaltung beenden wollen, und zwar möglichst bald und möglichst drastisch.«

Gemina Picht, Campaignerin von Die Offene Gesellschaft (www.die-offene-gesellschaft.de/about):

»Vier Fragen/Themen, die mich beschäftigen: Vor dem Hintergrund der Digitalisierung von Arbeit würde ich gerne eine Diskussion über den Wert von Arbeit in der Politik/im öffentlichen Diskurs mitbekommen. Was ist Arbeit in einer (immer mehr) digitalisierten Gesellschaft wert und wie äußert sich dieser? Wie kann (Schul- und Universitäts-)Bildung gestaltet werden, die freies Denken fördert, anstatt den rastlosen Wettlauf nach Effizienz zu unterstützen? Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die nicht in allen Belangen die Prämisse von wirtschaftlichem Wachstum verfolgt? Wie kann sich gesellschaftliches Zusammenleben so organisieren, dass sich jeder Mensch in ihr existenzberechtigt fühlt?«

Thomas W., 30, Eritreer, der seit knapp zwei Jahren in Deutschland lebt:

»Es wird zu wenig über Digitalisierung und die Gefahren durch das Internet gesprochen.«

Dario Gusmano, 39, Römer, der seit drei Jahren Berlin lebt:

»Im Grunde genommen soll alles so bleiben, wie es ist. Diese politische Stabilität und die wirtschaftliche Stärke gefallen mir an Deutschland. Ich finde es vorbildlich, wie Deutschland mit der Flüchtlingskrise umgegangen ist. Gelegentlich würde ich mir etwas mehr Solidarität mit Europas Süden wünschen. Man sollte über eine Vergemeinschaftung von Schulden nachdenken. Also nicht von alten, sondern von neuen Schulden, die man für Investitionen macht. Es wäre auch eine gute Idee, über einen EU-Finanzminister nachzudenken.«

Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik an der Uni Krems:

»Mit Blick auf Europa beziehungsweise die EU muss Schluss sein mit dem Durchwursteln. Europa hat nicht mehr viel Zeit, um aus seiner tiefsten strukturellen Krise heraus zu finden, die längst die nationalstaatlichen Demokratien und Parteiensysteme zersetzt und zu einer Bedrohung für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in Europa geworden ist. Der nächste Koalitionsvertrag muss daher ein klares und mutiges Bekenntnis der nächsten Bundesregierung zu einer fundamentalen Reorganisation der europäischen Institutionen beinhalten, im Sinne einer demokratischen, sozialen und parlamentarischen Neubegründung der Eurozone und der EU. Die EU braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag, der weit über die fünf Szenarien von Jean-Claude Juncker zur Zukunft der EU hinausgeht, um den inneren Zusammenhalt Europas nicht zu gefährden. Es ist Aufgabe und Pflicht jeder Bundesregierung, das europäische Projekt im Sinne einer Staatsräson stetig voranzutreiben. Der nächste Koalitionsvertrag muss zu dieser deutschen Kernaufgabe zurückfinden und dabei die deutsche Dominanz im europäischen Institutionengefüge beenden. Jede vertiefte Integration der Eurozone muss dabei ein realistisches Angebot für die Länder Osteuropas bereithalten, um das Erbe der friedlichen Revolution von 1989 nicht zu verspielen. Die aktuelle Fokussierung der EU auf Abschottung (Frontex) und Sicherheit darf ferner nicht zum übergeordneten Ziel beziehungsweise Zweck der europäischen Einigung werden. Europa, das ist die Verteidigung der Werte der Aufklärung (Liberté, Égalité, Fraternité) und es ist an der Zeit, darauf hinzuweisen, dass Sicherheit in dieser Triade nicht vorkommt und kein Wert an sich ist. Die derzeitige Engführung des europäischen Diskurses auf Sicherheit widerspricht zutiefst der Tatsache, dass der Sinn von Politik der Erhalt der Freiheit ist.«

Ralf Fücks, langjähriger Vorstand der Böll-Stiftung:

»Wir leben in einer Periode stürmischer Veränderungen. Unsere Politik zielt nicht darauf ab, den Wandel zu verhindern, sondern ihn so zu gestalten, dass er zum sozialen und ökologischen Fortschritt beiträgt. Wir wollen alle Menschen befähigen, souverän mit dem Neuen umzugehen und die republikanischen Institutionen stärken, die Sicherheit im Wandel gewährleisten.«

Luuk van Middelaar, Politikphilosoph, Autor von Vom Kontinent zur Union (Suhrkamp 2016):

»Jenseits der alten ›Regelpolitik‹ des Binnenmarktes soll die Europäische Union künftig auch ›Ereignispolitik‹ betreiben können: Das heißt, sie soll ihre Handlungsfähigkeit und strategische Vernunft entwickeln, damit sie besser vorbereitet ist auf das Erwartbare (wie Schlauchboote mit Flüchtlingen auf dem Mittelmeer) und auch das Unerwartete nicht immer wieder als Krise erlebt, gegen die man ankämpfen muss.«

Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München:

»Die Individualautomobilität hat keine Zukunft mehr – wie so vieles andere, das uns irgendwie ans Herz gewachsen ist und dort jetzt Geschwüre bildet. Was niemand im politischen Feld offen sagen mag: So geht es nicht weiter. Es muss nicht alles, aber sehr, sehr vieles anders werden. Im nächsten Koalitionsvertrag muss also stehen: Wir werden nicht länger auf Kosten anderer leben. Hat Angela Merkel im Mai auf dem Kongress von Labour 20 gesagt. Aber wohl doch nicht ganz so gemeint.«

Eckart von Hirschhausen, Mediziner, Comedian und TV-Moderator:

»Ich träume von einer Internetplattform, die als erste Anlaufstelle für Gesundheitsfragen kompetent und verständlich den aktuellen Stand des Wissens für Ärzte, Patienten und Angehörige dient. Öffentlich finanziert, werbeunabhängig, erstellt von den besten Wissenschaftsvermittlern mit den besten Beiträgen und Autoren, die es zu den Themen gibt. Inklusive aller Beiträge, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio produziert – zum Nutzen aller.«

Felix Kolb, Vorstand der Bewegungsstiftung Campact:

»In einem Koalitionsvertrag dürfen keine Maßnahmen fehlen, um die Schere zwischen Reich und Arm zu schließen, dazu gehören: Spitzensteuersätze erhöhen, Steuerflucht konsequent bekämpfen, Lobbyregister einführen (um Einfluss der Konzerne auf Politik zu begrenzen), Kitas, Schulen und Unis fördern und Bürgerversicherung einführen.«

Paula Steingässer, Schülerin der Waldorfschule Darmstadt

»Meine größte Bitte an unsere gegenwärtige und zukünftige Regierung ist die, sich in keiner ihrer Entscheidungen von den Interessen der Wirtschaft oder der Macht des Geldes lenken zu lassen, sondern dass stattdessen der größte Wert darauf gelegt wird, einen (Lebens-)Wandel zu fordern, zu ermöglichen und zu leben, dessen Ziel in der Erhaltung und Bewahrung unseres Lebensraumes liegt. Ich bitte um eine Zukunft, in der meine und alle auf uns folgenden Generationen das Recht und die Möglichkeit haben, in einer Welt zu leben, die nicht weniger an lebensnotwendigen Ressourcen, Vielfalt und Schönheit beinhal-tet als unsere heutige, und eine Gegenwart, die von Verantwortung und Gerechtigkeit gegenüber den kommenden Generationen, unserem Planeten und all seinen gegenwärtigen Bewohnern geprägt ist.«

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