Diskussion Antisemitismus in Berlin: Die abnormale Normalität

Angriffe gegen Juden treten auch im weltoffenen Berlin auf: Wie soll die Stadtgesellschaft damit umgehen?

Gemma Michalski schildert den antisemitischen Vorfall an einer Berliner Schule auf ihren Sohn Bild: dpa

von MALAIKA RIVUZUMWAMI

Mitten im Berliner Szenebezirk Prenzlauer Berg, wo vermeintlich die Welt zwischen Soja-Latte und Kinderwägen absolut idyllisch ist, lädt taz.meinland zur Diskussionsrunde ein. Nach fast fünfzig Veranstaltung könnte dies schon Routine sein, doch das Thema des heutigen Abends ist sensibel. In der Lounge der GLS Sprachschule soll heute über Antisemitismus gesprochen werden. In einer Stadt mit viel Geschichte, die sich mittlerweile als weltoffen und tolerant verkauft, bleibt trotzdem die Frage: Ist Berlin das auch für Juden?

Den runden Tisch besetzten Marina Chernivsky, Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der ZWST, Dervis Hizarci, Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Benjamin Steinitz, Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, Gemma Michalski, Mutter eines Betroffenen, Samuel Schidem, Stiftung Topographie des Terrors, Sigmount A. Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Julia Förster, „Gesicht zeigen!“. Jan Feddersen, taz, moderierte den Abend.

Armin Langer von der Salaam-Schalom Initiative sagte am Nachmittag leider aus gesundheitlichen Gründen ab.

Kein Einzelfall: Antisemitismus in Schulen

Dass an diesem Abend nicht über lang vergangene Geschichte, sondern über tägliche Konfrontation innerhalb der Gesellschaft gesprochen wird, ist schon direkt zu Beginn klar. Gemma Michalski erzählt die Geschichte ihres Sohnes, ihrer Familie. Nach einem Schulwechsel an eine Gemeinschaftsschule in Friedenau, wird ihr Sohn von seinen Mitschüler*innen beleidigt, attackiert und bedroht, weil er im Religionsunterricht erzählt, dass er Jude ist.

An der Gemeinschaftsschule lernen 850 Kinder, drei von vieren haben eine andere Muttersprache als Deutsch, etwa die Hälfte davon mit türkischen Wurzeln oder arabischstämmig. Genau deswegen hatte die Familie die Schule ja ausgesucht. Zuvor war der Junge auf ein Gymnasium in Potsdam gegangen. „Er war der Einzige, der anders war“, erzählt seine Mutter. Im April dieses Jahres zogen seine Eltern nach drei Monaten Schikane den Schlussstrich: ihr Kind verlässt die Schule.

„Was mich immer wieder wütend und sprachlos macht ist, dass Jude sein scheinbar provoziert.“

Unterstützung der Schule? Fehlanzeige. Immer wieder wurden sie von der Schulleitung vertröstet. Es handele sich schließlich nur um einen Privatstreit, Teenager eben, die Kinder müssten lernen sich zu identifizieren, denn „ihr Kind müsse sich schließlich daran gewöhnen anders zu sein, weil er Jude ist.“

Ein Vorfall, der mitnichten ein Einzelfall ist. Weder in Friedenau, auch wenn es keinesfalls ein Brennpunkt ist, noch in Berlin oder in Deutschland. Doch in die öffentlichen Debatte schafft es das Phänomen meist nur punktuell. Zahlreiche Initiativen, NGOs und engagierte Personen arbeiten gegen die Ideologie, doch Vorurteile scheinen tief verwurzelt zu sein. Zudem werden sie scheinbar auch von Generation zu Generation weitergegeben. Oder wie sonst kann es sein, das Jugendfreunde sich erst mit dem Wissen über die eigene Religion abwenden?

Marina Chernivsky sieht genau darin eine große Problematik: „Was mich immer wieder wütend und sprachlos macht ist, dass Jude sein scheinbar provoziert.“

Umgang mit Antisemitismus als zu komplex für Schulen?

Das Thema ist komplex und Ressentiments und sensationelle Berichterstattung erschweren eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Problem. Dass heutzutage ein israelbezogener Antisemitismus existiert, der sich an Halbwissen über den Nahost-Konflikt entzündet und sich mit Verschwörungstheorien vermengt, erschwert die Lage.

„Der Nahost-Konflikt hat doch nichts auf einem Berliner Schulhof zu suchen! Das Problem ist doch, dass es eine große Akzeptanz von Antisemitismus in unserer Gesellschaft gibt“, meint jedoch Samuel Schidem. Die Frage sei ja schließlich auch, ob solch eine schwerwiegende politische Thematik zwischen den Schulhofmauern überhaupt schon verstanden werden kann.

„Wir dokumentieren viele antisemitische Straftaten. Die Sichtbarmachung ist jedoch schwierig.“

Es gäbe eine Form der Überforderung mit dem Nahost-Konflikt und der Einwanderungssituation adäquat umzugehen, meint Benjamin Steinitz. „Wir dokumentieren viele antisemitistische Straftaten. Die Sichtbarmachung ist jedoch schwierig.“ Denn nach deutschem Gesetz werden diese Straftaten unter rechtsextremistischen Taten geführt oder werden als Diskriminierung kategorisiert. „Wer will mir den erzählen, dass ein Brandanschlag auf eine Synagoge in Wuppertal kein Antisemitismus ist? Menschen, die den erleben, haben doch immer noch das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen!“

Doch wo fängt man an Antisemitismus entschieden zu problematisieren und wenn die Schule keinen Ort darstellt, wo in unserer Gesellschaft muss man dann ansetzten? Für Julia Förster steht fest, die Schule kann aus diesem Prozess nicht ausgeschlossen werden, denn die Schüler*innen müssen eben genau dort abgeholt werden, wo sie stehen. „Es herrscht viel Unwissenheit über das Thema Religion, sei es die Eigene oder von Anderen.“

Man könne die Schule als Lehrkörper nicht komplett aus seiner Verantwortung ziehen, gleichzeitig sie auch nicht überfordert zurücklassen. Die Lehrer*innen sind für solche Konflikte bisher auch nicht genügend ausgebildet, zudem fehlt auch die Zeit. „Wenn ich mit Aussagen konfrontiert werde, wie: 'Juden sind scheiße', dann kann ich nicht einfach zum nächsten Punkt übergehen. Dann muss auch mal über den Nahost-Konflikt gesprochen werden.“

Frühestmögliche Sensibilisierung notwendig

Dass die Lehrkörper zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht in der Lage sind alleine solche Debatten zu führen und zu sensibilisieren ist ein bekanntes Problem. Nicht nur im Bereich Antisemitismus wird immer wieder die Ausbildung und Schulung der deutschen Lehrer*innen kritisiert. Doch auch staatliche Einrichtungen, Stiftungen und Förderungen gingen oftmals einen falschen Ansatz an, fügt Samuel Schidem hinzu.

In seinen Augen ist eine Schule nicht nur nicht die richtige Adresse für ein pädagogisches, sondern selbst Teil des Problems. „Es gibt so viele 'Kuschelinitiativen' in Deutschland. Wo fangen die mit ihrer Arbeit an? An Gymnasien mit hippen und modernen Schülern. Aber wir erreichen doch nicht die Schüler, die solche Meinungen in ihren Alltag integrieren.“

„Wir haben eine Normalität, die abnormal ist. Dem können wir nur mit Bildung, Beratung und Begegnung entgegenwirken.“

Statt sich zu erst auf einen Ort festzulegen, an welchem über die Thematik gesprochen und aufgeklärt werden soll, muss vielleicht auch über die Entstehung gesprochen werden. Denn scheinbar gibt es in der Gesellschaft einen Nährboden, der viel Raum und Möglichkeiten lässt, um dieses Verhalten entstehen zu lassen. „Wir haben eine Normalität, die abnormal ist. Dem können wir nur mit Bildung, Beratung und Begegnung entgegenwirken“, meint Dervis Hizarci. Um dieser Abnormalität entgegenwirken zu können, müsse mit Vorurteilen aufgeräumt werden. Vor allem solle aber die Gesellschaft erkennen, dass Antisemitismus nicht ein Problem von Anderen ist. Augen und Ohren zu halten, dass müssen wir endlich lernen, wirft die Gemeinschaft weit zurück.

Die Sensibilisierung muss sehr viel früher anfangen, immer wieder fällt das Stichwort „Erziehung“. Auch Gemma Michalski und ihr Mann haben die ehemalige Schule ihres Sohnes immer wieder gebeten, mit den Kindern zu sprechen. Es ging ihnen nicht um Bestrafung, sondern um einen gemeinsamen Weg durch Aufklärung.

Dervis Hizarci, selbst Lehrer an einer Kreuzberger Schule, sieht nicht in solchen Fällen die Pflicht eines jeden Mitmenschen angesprochen: „Man schützt die Schwächeren, dass ist doch die Aufgabe eines Lehrers. Wenn das ein Lehrer nicht tut, ist die Qualifikation seines Berufs fragwürdig. Wenn das jemand auf der Straße nicht tut, ist seine Aufgabe sich als Bürger zu hinterfragen.“

Prävention statt Intervention

Laut Umfragen geben mehr als 70 Prozent der Befragten Juden in Deutschland an, im letzten Jahr körperliche Gewalt erlebt zu haben. Eine Zahl, die in unserem Alltag keinerlei Bedeutung findet. Es wirkt, es würde hier von einer absoluten Minderheit gesprochen werden. Auch wenn am Tisch gescherzt wird, dass die Wahrscheinlichkeit einen jüdischen Bekannten im Freundeskreis haben, so hoch ist wie ein Sechser im Lotto, gibt es eine jüdische Gemeinschaft.

Nach Aussage der Bundesregierung stieg die Zahl der antisemitischen und antiisraelischen Straftaten in Deutschland in den ersten Monaten des Jahres 2017: Die Zahl der Gewaltdelikte stieg demnach von 14 auf 15, die Fälle von Volksverhetzung von 425 auf 434.

Doch gerade die Jugendlichen würden oftmals den Kontakt an diesen Stellen verlieren. In Berlin beispielsweise sind etwa 60 Prozent der jüdischen Menschen über 50 Jahre alt. „Für Teenager entsteht doch da keine Begegnung, die Leben doch einfach nur nebeneinander her. Ja, man kann eine Moschee besuchen, aber wo bleibt denn da der Austausch?“, merkt Sigmount A. Königsberg an. Einer von vielen Faktoren, warum die Jugendlichen sich wenig mit ihrer eigenen Herkunft und Glaubensfragen beschäftigen. So fällt es auch schwer, eigenständig Vorurteile aus dem Weg zu räumen.

An diesem Abend werden viele Themenbereiche angesprochen, auf unterschiedlichsten Ebenen diskutiert. Man merkt immer wieder: die Thematik ist schwierig, komplex und sensibel. Prävention, Intervention und Politik - nur wenige Schlagworte, die besprochen wurden und Taten fordern. Die historische Angst ist ein nicht zu vergessender Grundstein. Sie wird von Generation zu Generation weitergetragen.

Zum Abschluss soll bei all den Schwierigkeiten in die Zukunft geschaut, Wünsche geäußert werden. Benjamin Steinitz wünscht sich mehr Schutz für die Opfer, mehr polizeiliche Aufklärungsarbeit, Sigmount A. Königsberg mehr Empathie für alle Gruppierungen und Marina Chernivsky eine wirksame Reflexion über Vergangenes.