Diskuswerfer Christoph Harting: „Ich möchte meine kleine heile Welt“

Christoph Harting erklärt, warum er sich absurde Weltrekordweiten zum Ziel setzt und wieso ihm die Ansprüche anderer Menschen an ihn egal sind.

Der Diskuswurf Olympiasieger Christoph Harting läuft auf der Ehrung der Berliner Teilnehmer an den Olympischen Spiele in Rio de Janeiro im Olympiastadion in Berlin

Christoph Harting auf der Ehrung der Teilnehmer an den Olympischen Spiele im August 2016 in Berlin Foto: dpa

Es ist ein langer Tag für Christoph Harting. Er hat am Vormittag trainiert im Kraftraum, dann vier Stunden an der FU Berlin verbracht, um in seinem Psychologie-Studium voranzukommen. Am Abend im Ostberliner Restaurant Vino del Sol freut er sich auf ein „richtig fettiges Essen“, denn zu Hause bei seiner Familie, seiner Frau und seiner neunjährigen Tochter, ist wegen Grippe nur Schonkost angesagt. Harting, der in Sportklamotten erscheint, bestellt sich eine Pizza Mista mit Extra-Käse.

taz: Herr Harting, Sie starten am Freitag beim Istaf-Indoor-Meeting in die Saison. Ihr Bruder Robert hat abgesagt. Wie weit können Sie werfen?

Christoph Harting: Angepeilt habe ich 65 Meter, wie jedes Jahr (lacht). Man sollte nicht zu viel erwarten.

Sie sind leichter als im Sommer. Richtig?

Etwa zehn Kilo. Ich fang meistens an mit 114 Kilo, und dann habe ich in der Spitze bis zu 125 Kilo.

Dann dürfte ihr Körperfettanteil auch ziemlich niedrig sein.

Alles, was über 7 Prozent Körperfettanteil liegt, ist für mich persönlich eine Beleidigung, ich bewege mich im Rahmen zwischen 4 und 6 Prozent. Fast wie ein Sprinter.

Sie haben angekündigt, irgendwann einmal 80 Meter weit werfen zu wollen, Fabelweltrekord. Wie passen Sie dafür in diesem Jahr Ihren Trainingsplan an?

Ich mache weniger. Mein Vorbild Al Oerter hat das ähnlich gemacht: Der ist Olympiasieger geworden, hat sich ein Jahr komplett aus dem Sport herausgenommen und sich drei Jahre langfristig aufgebaut, um wieder Olympiasieger zu werden. Das hat er viermal in Folge geschafft. Ich nutze dieses „Weniger“ an Training auch, um mich technisch deutlich weiterzuentwickeln. Mein Ziel sieht vor, in zwei bis drei Jahren Weltrekord zu werfen und 2020 erneut olympisches Gold zu holen.

Mit Verlaub, 80 Meter als fantastische Zielmarke, wie soll das ohne Doping gehen? War es klug, die 80 Meter ins Spiel zu bringen?

War es. Wenn 80 Meter nur mit Doping möglich sind, dann werde ich sie eben nie werfen.

Die Frage ist doch, wie weit kann man das Spiel mit so einer Zielmarke treiben, ohne dass die Öffentlichkeit das Gefühl hat, jetzt wird es absurd.

Das wird man erst wissen, wenn der erste Sprinter über 100 Meter unter acht Sekunden läuft. Nein, ich ich bin der, der langfristig plant, der langfristig ein Ziel verfolgt. In Rücksprache mit meinem Trainer Torsten Lönnfors haben wir die Fristen gesetzt.

Sie wurden zuerst zusammen mit Ihrem Bruder von Werner Goldmann betreut, jetzt allein von Lönnfors. Was unterscheidet die Coaches?

Werner Goldmann hat mir gezeigt, wie man arbeitet. Wie man das Haus baut. Torsten Lönnfors hat mir gezeigt, dass man dazu auch Werkzeug benutzen kann. Er hat die Stärken verstärkt und die Schwächen ausgemerzt.

Ihr Bruder trainiert ja zeitlich weiter mit ihnen, nur angeleitet von einem anderen Trainer.

26, raucht bis zu eine Schachtel am Tag, fährt Motorrad und wirft Diskus. Er ist in Cottbus groß geworden und wurde in Rio 2016 Olympiasieger. Seinem Bruder Robert gelang das in London 2012. Nach Christophs Olympiasieg folgte ein Shitstorm, weil er sich speziell freute. Er hatte auf dem Podium ein Tänzchen aufgeführt, juxte herum, dirigierte zu den Klängen der Nationalhymne.

Ja, wir stehen im Kraftraum anderthalb Meter nebeneinander.

Und das geht gut?

Ja. (lacht) Das Gute an der unmittelbaren Konkurrenzsituation ist, dass sie extrem leistungsfördernd ist. Im Sinne von: Jeder will besser sein als der andere.

Warum trainieren Sie nicht mehr mit Ihrem Bruder zusammen?

Es ging nicht mehr. Es war wie bei einem Flugzeug, bei dem plötzlich beide Turbinen Feuer fangen und der Trainer, hier als Mechaniker, nicht zeitgleich beide Brände löschen kann.

Warum studieren Sie Psychologie?

Am meisten interessiert mich: Warum reagieren Menschen, wie sie reagieren? Was ist der Grund?

Darüber hinaus leisten Sie den sogenannten Polizei-Regeldienst auch mal in Brennpunkt-Revieren ab, am Alex zum Beispiel.

Ja, es gab dort einige Vorfälle, welche einen zum Nachdenken anregen, die Kollegen dort draußen stimmen dem wahrscheinlich ohne zu zögern zu. Das gibt einem noch eine ganz andere Perspektive. Der persönliche Reifeprozess ist dann ein anderer.

Sie führen also kein Leben in einer Sportlerblase?

Das Letzte, was ich möchte, ist das Leben in einer Sportlerblase. Ich wollte nie nur für den Sport leben. Da hätte ich gar keinen Platz. Mir war immer klar, dass der Sport nur temporär begrenzt ist.

Vor Ihrem Olympiasieg mit 68,37 Metern haben Sie medial sehr enthaltsam gelebt. Warum reden Sie jetzt wieder mit der Presse?

Angriff ist die beste Verteidigung. (lacht) Auch vor Olympia 2020 werde ich keine Interviews geben. Das lenkt mich zu sehr ab.

Ihren Medienboykott haben manche Journalisten als Trotzphase interpretiert.

Ach, man konnte so viele Sachen lesen, und ein Großteil davon war einfach stumpf unwahr.

Was denn?

Dass gegen mich nach den Geschehnissen von Rio strafrechtlich ermittelt wurde. Es gab auch kein Disziplinarverfahren der Polizei und kein konkretes Schlag-den-Star-Angebot über 60.000 Euro.

Ihr Chef bei der Polizei in Kienbaum war nach Ihrer Hampelei auf dem Podest doch zumindest verstimmt?

Ich habe nicht nur positives Feedback bekommen, aber unser Verhältnis ist gut, direkt, ehrlich. Man arbeitet die Ereignisse gemeinsam auf und blick danach auf kommende Aufgaben. Gut, es war nicht alles toll in Rio, aber es gab nie einen Grund, das melodramatisch überzubewerten.

Waren Sie verblüfft über die zum Teil harsche Kritik an Ihrem Verhalten?

Ich hab vieles nicht mitgekriegt. Ich lag mit meiner Familie am Strand in Rio.

In aller Seelenruhe?

Wenn man mit sich im Reinen ist, kann einen nichts erschüttern. Du kannst es nie jedem recht machen. Warum mit Leuten streiten, die nicht mit dir einer Meinung sein wollen.

Ihr Auftritt in Rio de Janeiro gegenüber den Medien, das verweigerte ZDF-Interview etwa, hatte, sorry, etwas Unsouveränes?

Alles gut, ein ehrliches Feedback ist besser als gar keins. Mir ging es um die Gleichberechtigung der Journalisten. Ich hatte das gesamte Jahr kein Interview gegeben und wollte niemanden bevorzugen, sondern dieser Linie, zugegebener Maßen zu krampfhaft, treu bleiben. Vielleicht hätte man das besser lösen können.

Warum waren Sie in dem Moment, wo Ihnen so ein großartiger Erfolg beschieden ist, nicht generös und locker? Auf der berüchtigten Pressekonferenz danach wollten Sie einen Reporter, der Sie mit „Robert Harting“ angesprochen hatte, am liebsten rauswerfen.

O Gott, bitte nicht!

Das war schwer zu verstehen.

Ich wollt meine Ruhe haben, und die habe ich nicht gekriegt. Ich habe eine Viertelstunde mit dem zuständigen Kampfgericht diskutiert, dass ich nicht in die Pressekonferenz gehen möchte. Ich kam nicht drumherum. Ich wollte nur heraus aus dem Getümmel – und zu meiner Familie.

Sie waren überwältigt?

Ich war gefangen.

Bitte?

Ich war gefangen. Die Leute, die 365 Tage im Jahr hinter mir stehen. Die in Kauf nehmen, dass ich so viel weg bin, wenig Freizeit habe, die wollte ich zuerst in die Arme schließen und an meinen Emotionen teilhaben lassen. Das durfte ich einfach nicht. Ich durfte als freier Bürger nicht zu meiner Familie! Mittlerweile muss ich sagen: Ich habe mich provozieren lassen, in der Situation war das auch einfach – wie wenn man einem Kind das Eis wegnimmt. Ich war emotional nicht stabil. Das nächste Mal bin ich schlauer, das war echt doof gelöst.

Haben Sie sich den Shitstorm in Deutschland dann noch einmal näher angeschaut?

Die Artikel selbst habe ich meistens gar nicht gelesen, sondern die Kommentarspalten dazu. Das war ein Gaumenschmaus. Die zwei Lager, von „Wie kann der denn noch Deutscher genannt werden“ bis zu „Wie kann man aus einer Mücke so eine Air Force One machen“. Amüsant.

Warum sind Sie nicht im Netz, nicht auf Facebook, nicht auf Twitter, nirgendwo?

Ich habe ja nicht mal einen YouTube-Channel. Ich bin ja so was von 90er.

Warum nicht?

Da geht es doch nur um Selbstdarstellung. Ich habe einen zu großen Respekt vor den sozialen Medien. Ich weiß, wie Datenverarbeitungssysteme funktionieren. Ich weiß, welche Daten ausgelesen werden. Und ich weiß auch, wie transparent ein Mensch wird, der diese Daten von sich preisgibt. Das möchte ich nicht. Ich möchte meine kleine heile Welt. Mir geht es nicht darum zu zeigen, wie toll ich bin oder was ich alles kann. Ich habe ein Ziel – und das ist der Weltrekord. Und den werde ich mir holen. Ob das die Leute interessiert oder eben nicht.

Aber die Öffentlichkeit hängt immer an Ihnen dran, mit allen Ansprüchen, allem Pipapo?

Muss ich mich deswegen verbiegen?

Gegenfrage: Sind Sie ein Nonkonformist?

Nein, ich bin Uniformist, weil ich Uniform trage. Ich denke, auch wenn das einer der zynischsten Sätze ist, die das Leben je hervorgebracht hat: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Ich bin Herr über mich selbst. Ich entscheide. Das kann jeder interpretieren, wie er möchte.

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