Diverses Fernsehen: Eine total heterogene Truppe
Das deutsche Fernsehen ist diverser geworden. Was hat das Berliner Maxim Gorki Theaters damit zu tun?
Fernsehzuschauerinnen und Streamingfans sind sie längst ein Begriff: Schauspieler:innen, die sich in den ersten Jahren von Shermin Langhoffs Intendanz am Berliner Maxim Gorki Theater voll auf die Bühne konzentrierten, tummeln sich seit ein paar Jahren in Film und TV.
Sesede Terziyan etwa hat als bossy Kriminalhauptkommissarin Jasmin Sayed in der Vorabendserie „WaPo“ ihr Berliner Team im Griff. Dimitrij Schaad ist ohnehin der Lieblingsschluffi des deutschen Kinos, kann aber auch surreale Action, wenn er als Westberliner Bulle Sven Petzold in der surrealen Wendezeitserie „Kleo“ auf Netflix eine durchgeknallte Tschekistin jagt.
Oder „Doppelhaushälfte“, die clevere ZDF-Comedy über zwei konträre Familien im Berliner Speckgürtel: Dort rümpft Maryam Zaree als links-grüne Karriere-Personalerin Mari über ihren Bürgergeld beziehenden Nachbarn Andi (Milan Peschel) die Nase, und Aysima Ergün ist als Polizistin im selben Dorf eine echt preußische Paragrafenreiterin.
In der lustvoll abgefuckten Krankenhausserie „Krank Berlin“ bangt man um jeden Patienten, der Aram Tafreshians reizendem, aber inkompetenten Dr. Kohn in die Hände fällt. Und Kenda Hmeidan – kleiner Schritt weg vom Mainstream – liefert in Burhan Qurbanis experimenteller Shakespeare-Adaption „Kein Tier. So wild“ eine überwältigende Rache-Performance als traumatisierte Clan-Schwester, die ihre Familie in Schutt und Asche legt.
Gorki-Spieler*innen im TV und Kino
Zu Beginn der letzten Spielzeit der Intendanz von Shermin Langhoff wird einem klar, wie stark die Präsenz von Gorki-Spieler:innen mittlerweile auch in TV, Streamern und Kino geworden ist. Das war nicht von Anfang an so, doch von Anfang an war klar, dass Langhoff in ihrem Ensemble Schauspieler:innen versammelte, die auf deutschsprachigen Theaterbühnen lange Zeit stereotyp als Dienstmädchen oder in Exotenrollen besetzt worden waren – Menschen aus Familien mit Migrationsgeschichte, People of Color, Roma.
Manche von ihnen waren, Stichwort „white passing“, auch einfach als Weiße durchgegangen. Im mit Sicherheit diversesten Stadttheaterensemble der Bundesrepublik erhielten sie zusammen mit queeren und jüdischen Spieler:innen eine neue Sichtbarkeit. In der Folge der Flüchtlingswelle aus Syrien ergänzte Langhoff ihr Haus obendrein um ein Exilensemble. Und wenn Schauspieler:innen doch weiß und hetero waren, kamen sie aus der ostdeutschen Provinz.
Es ging darum, die plurale Wirklichkeit der Gesellschaft auf einer deutschen Bühne zu repräsentieren, die Dominanz weißer, im Zweifel westdeutscher Bürgerlichkeit auszuhebeln und dabei ins Utopische vorzustoßen. Die wahrscheinlich größte Theaterrevolution seit den Mitbestimmungsversuchen um 1968 wirkte gewaltig in die Theaterszene hinein – fast überall sind seither die Ensembles diverser und inklusiver geworden, werden andere Bühnenstoffe und Bühnenstoffe anders erzählt.
Aber reichte der Gorki-Einfluss womöglich noch weiter, bis in die Besetzungspraxis von TV- und Streamingproduktionen? Hat er dazu beigetragen, dass migrantisch gelesene Spielerinnen inzwischen selbstverständlicher Rollen von Akademikern oder Staatsbeamtinnen übernehmen?
Bodensatz von breiter Ignoranz
Die Berliner Casting-Direktorin Suse Marquardt, die u. a. das Casting für Burhan Qurbanis Filme verantwortet, hält es für ein „großes Missverständnis“ zu glauben, dass Casterinnen erst mit dem Gorki begonnen hätten, diversere Besetzungen vorzuschlagen, man sei nur über Jahre in den Redaktionen auf einen „Bodensatz von breiter Ignoranz“ gestoßen.
Casterinnen hätten auch schon vor 2013 PoC-Schauspieler:innen gesucht, gefunden und vorgeschlagen, in Berlin etwa im Ballhaus Naunynstraße oder im Kreuzberger Tiyatrom, wobei Profis 50+ schwer zu finden waren.
„Shermin Langhoffs Gorki hat aber generell die Aufmerksamkeit für diverse Spieler:innen gesteigert, Diversität ins Sichtfeld des Mainstreams gerückt. In manchen Pitches wurde es leichter, wenn ich auf eine Karriere an einer staatlichen Bühne, etwa dem Gorki – verweisen konnte. Dafür bin ich Shermin extrem dankbar.“
Dass auch unabhängig vom Gorki „Bewegung in die Sache“ gekommen sei, meint Marquardt, läge nicht zuletzt daran, dass sich seit den 1990er und nuller Jahren immer mehr Menschen aus Migrationsfamilien in entsprechenden künstlerischen Ausbildungen und Berufen etablieren. Auch das Gorki hat von Anfang an davon profitiert.
Ensemblegrößen an großen Bühnen
Ensemblegrößen wie Taner Sahintürk, Cigdem Teke oder Sesede Terziyan sind als Kinder von Einwanderern in Deutschland geboren und ausgebildet, waren auch schon vor dem Gorki an großen Bühnen engagiert. Oder wie Dimitrij Schaad, der mit acht aus Kasachstan nach Deutschland kam, in München studierte und dann vom Schauspiel Bochum für sechs Jahre ans Gorki wechselte. Er ist überzeugt davon, dass Sichtbarkeit exponentiell empowernde Konsequenzen hat: „Je mehr Repräsentation, desto attraktiver der Beruf.“
Mittlerweile ist er selbst ins Netflixbusiness eingestiegen und hat gemeinsam mit seinem Bruder, dem Regisseur Alexej Schaad, seine erste „Wohlfühlserie“ entwickelt und abgedreht („Kacken an der Havel“). So positiv er grundsätzlich die veränderten Castinggepflogenheiten findet: „Sie kann manchmal auch Tokenism sein“, also eine rein symbolische Besetzung ohne echtes Interesse an den dargestellten Biografien.
Für Schaad ist der Diversitätsschub der letzten Dekade auch mit einer euphorischen Hochphase experimentellen und „flippigeren“ Erzählens verbunden, in der die Streamer nach neuen Gesichtern für Serien suchten, die auf dem internationalen Markt funktionieren sollten. Das Gorki habe das zwar nicht ausgelöst, aber den Zeitgeist am richtigen Ort verströmt: „In Weimar hätte das vermutlich nicht geklappt.“
„Deutschlandmärchen“ war beim Theatertreffen
Sesede Terziyan probt gerade für „Berlin Karl-Marx-Platz“, als wir uns in ihrem Stammcafé treffen. Es ist ihre letzte Gorki-Premiere mit dem Regisseur Hakan Savas Mican; die gemeinsame Arbeit „Deutschlandmärchen“ war zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen. Die in Ostfriesland geborene Schauspielerin, deren armenische Eltern aus politischen Gründen die Türkei verließen, ist seit der erfolgreichen Ballhaus-Produktion „Verrücktes Blut“ 2010 Teil des „postmigrantischen“ Projekts.
Sie schwärmt noch einmal von der „total heterogenen Truppe“, die beim anstehenden Leitungswechsel von Langhoff zu Kuratorin Cagla Ilk beinahe geschlossen das Haus verlässt: „Nach 14 Jahren ist das eine gute Gelegenheit zu gehen; zu bleiben hätte sich nicht richtig angefühlt.“
Auch sie hält es für möglich, dass das Gorki für Casterinnen und Produzenten eine Inspirationsquelle war, zumindest in ihrem Fall. So habe die Autorin Rebecca Martin beim Schreiben der 4. Staffel der Serie „Charité“ Sesede Terziyan vor Augen gehabt, als sie deren Protagonistin, die Mikrobiologin Dr. Maral Safadi, entwarf.
Und die „WaPo Berlin“-Produzentinnen Katharina Puttendörfer und Britta Hansen kamen vor sechs Jahren direkt ins Theater, um Terziyan von ihrer Vision zu überzeugen, dass „ein an sich begrenztes Format sich so weit ausdehnen lässt, dass es die Zuschauerwahrnehmung beeinflusst. Da ging es nicht nur ums Postmigrantische, sondern auch darum, eine Frau an die Spitze der Wasserschutzpolizei-Wache zu stellen.“
Ganz anderes Publikumsmilieu
Und solche TV-Serien erreichen natürlich ganz andere Publikumsmilieus und -Zahlen: die „WaPo Berlin“-Staffeln, bei denen auch Gorki-Kollege Hassan Akkouch mitspielt, haben jeweils um die 2,85 Millionen Zuschauer erreicht.
Trotzdem kommen alle drei – Suse Marquardt, Sesede Terzyian und Dimitrij Schaad – von sich aus auf den Backlash zu sprechen, den sie befürchten oder bereits beobachten. „Das könnte natürlich auch alles wieder zurückgefahren werden“, merkt Schaad mit Blick auf die USA an. Suse Marquardt nimmt eine „neue Angst wahr, migrantische Spieler:innen als Antagonisten zu besetzen, etwa als korrupter Anwalt, um keine Ressentiments zu schüren oder zu bekräftigen“.
Und Sesede Terziyan fühlt sich zwar manchmal „wie Don Quichotte im Kampf gegen Windmühlen“, spürt aber nach 14 Jahren „eine ganz andere Zahl von Menschen“ hinter sich. „Wir wurden und werden angegriffen. Aber wir gehen damit um und arbeiten damit.“
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