Doku-Film über Sylt: Erinnerungen an die Insel

Mit „Ich war schon auf der ganzen Welt, nur noch nicht am Ellenbogen“ befasst sich die Bremerin Annette Ortlieb einmal mehr mit Sylt.

ein gestrandeter Wal im Dezember 1918 auf Sylt

Rettendes Geschenk des Meeres: ein gestrandeter Wal im Dezember 1918 auf Sylt. Foto: Filmbüro

BREMEN taz | „1918“, sagt Marga Barake in die Kamera, „ich kann mich genau erinnern!“ Und beginnt zu erzählen – so lebendig, detailreich und humorvoll, dass der Zuschauer einen intensiven und bleibenden Eindruck davon bekommt, wie das war, auf der Insel Sylt aufzuwachsen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: 1905 wurde sie dort geboren. Auch Herta Findeisen und Laura Kerwin kamen auf Sylt zur Welt, 1923 und 1926.

Von diesen drei Erzählerinnen und Hauptfiguren des Dokumentarfilms „Ich war schon auf der ganzen Welt, nur noch nicht am Ellenbogen“ sind zwei inzwischen gestorben, die dritte leidet an Altersdemenz. So gehören ihre Erinnerungen zu den letzten Zeugnissen einer Zeit, in der auf Sylt noch nicht die Reichen und Schönen wohnten.

Ebenfalls gebürtige Sylterin, allerdings im Süden Deutschlands aufgewachsen, ist die Filmemacherin Annette Gottlieb. Für die Wahl-Bremerin hatten die Sommerferien auf der Insel stets einen eigenen Zauber, geprägt auch durch die Erzählungen von Mutter und Großmutter. Ob ihr deshalb die Porträts der drei Insulanerinnen so gut gelungen sind? Denen jedenfalls entlockte sie die erstaunlichsten Geschichten und so ist Gottliebs Film eine melancholisch-poetische Liebeserklärung.

Die drei Frauen erzählen vor allem davon, wie arm die Inselbewohner damals waren und wie hart ihre Lebensbedingungen. Bei Sturmfluten stand das Wasser oft hoch bis zum Fenstersims und „es waren immer sternenklare Nächte, wo man das Getöse draußen gut sehen konnte“. Danach fanden sie dann manchmal die Leichen Ertrunkener am Strand, aber auch die erfüllten sie mit Vorfreude: Nach so einem Schiffbruch spülte das Meer oft Strandgut an Land, „ganze Kisten voller Apfelsinen, ich weiß noch genau, wie die schmeckten!“ Und als mal ein Fass Rum da lag, steckten die Kinder so oft die Finger durch ein Loch hinein und leckten daran, dass sie später mit dem Fuhrwerk nach Hause gefahren wurden – betrunken.

Gerahmt hat Ortlieb die Erinnerungen der Frauen mit Naturaufnahmen: Dünen, Wellen, Wolken, Vögel und Gras, das sind auf den ersten Blick natürlich sehr naheliegende, beinahe banale Motive. Hier werden sie aber so stimmungsvoll fotografiert und musikalisch montiert, dass sie eine elegische Insel-Atmosphäre heraufbeschwören.

2011 bereits befasste sich Ortlieb filmisch mit der Insel und ihren Bewohnerinnen: Die 56 Minuten lange Dokumentation „Inseltöchter“ wurde bei der Premiere vor Ort von Publikum und Medien gefeiert, lief dann auf norddeutschen Festivals und wird inzwischen als DVD in Sylter Läden verkauft. Vom Sylter Heimatmuseum in Keitum erhielt Ortlieb dann den Auftrag, noch einen Film zu machen, in dessen Mittelpunkt ebenfalls die Erzählungen der drei Frauen stehen sollten. Während „Inseltöchter“ eher universell von der Kindheit, der Sehnsucht nach Freiheit oder auch vom Tod handelt – und, so Ortlieb, „auch in Bayern“ hätte entstehen können –, wollte das Museum einen konkreteren Zugang, einen, der sich auch auf die Örtlichkeiten konzentriert.

Für „Ich war schon auf der ganzen Welt, nur noch nicht am Ellenbogen“ nutzte die Filmemacherin nun zum Teil andere Passagen aus den viele Stunden dauernden Aufnahmen mit ihren drei Protagonistinnen. Etwa zur Hälfte besteht der Film aus zuvor nicht gezeigten Gesprächssequenzen, Passagen, die bereits verwendet worden waren, finden sich immerhin in anderen, neuen Kontexten wieder.

Setzte sie für „Inseltöchter“ eher sparsam historisches Fotomaterial ein, durchforstete Ortlieb für den neuen Film Archive und Dachböden: Weil sie konkreter erzählen sollte, war ihr wichtig, die Erzählungen mit Originaldokumenten zu unterfüttern. So hat sie nun über 100 historische Schwarzweißfotos verwendet, teils auch im Sand vergraben. Mit diesen Bildern lassen sich auch die vielen Schnitte in den Gesprächssequenzen kaschieren: Deutlich mehr als damals bei den „Inseltöchtern“ muss Ortlieb die oft ausschweifenden Erzählungen der drei Damen zurechtstutzen. Wie damals verzichtet sie aber auch jetzt auf jeden erklärenden Off-Text oder Zwischentitel.

In der besten Passage erinnert sich Marga Barake an die Notzeiten während des Ersten Weltkriegs und diese Erzählung ist so berührend, packend und komisch, dass Annette Ortlieb sie bereits 2014 unter dem Titel „Marga und der Wal“ als eigenständigen Kurzfilm veröffentlichte, der dann in Flensburg und Bremen Publikumspreise gewann und von der Filmbewertungsstelle das Prädikat „besonders wertvoll“ erhielt. Tatsächlich ist es eine geradezu klassisch erzählte Paraphrase der biblischen Geschichte von Jonas, denn auch Barake war in ihrer Jugend einmal im Maul eines Wals und erzählt davon, wie sie auf dessen „glitschiger Zunge“ herumlief. Dieser Wal allerdings war gestrandet und ganz Sylt gekommen, um sich an seinem Fleisch und Tran zu bedienen. Sie erzählt zugleich vom wohl größten Abenteuer ihrer Jugend und davon, wie hungrig sie damals auf Sylt waren: So sehr, dass noch ein bisschen Walfleisch, das „nur nach Tran schmeckte“, als rettendes Geschenk des Meeres ankam

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