Drama nach Attentat in Paris: Geiseln in koscherem Supermarkt

In Paris soll ein Mann, der möglicherweise mit den „Charlie Hebdo“-Attentätern in Verbindung steht, fünf Geiseln genommen haben, darunter auch Kinder.

Der französische Präsident Hollande und Vertreter der Départements auf dem Weg zu einer Krisensitzung. Bild: dpa

PARIS/LONDON/BERLIN afp/dpa/ap/rtr | Im Osten von Paris hat ein bewaffneter Mann am Freitag gegen 13.00 Uhr in einem Lebensmittelladen für koschere Produkte mindestens fünf Geiseln genommen, darunter nach Berichten französicher Medien auch Kinder. Er drang bewaffnet mit zwei Schnellfeuerwaffen in den kleinen Supermarkt ein. Das französische Innenministerium weist Medienberichte über zwei Tote bei der Geiselnahme zurück.

Der Täter könnte der Mann sein, der am Donnerstag südlich von Paris eine Polizistin erschossen hatte, hieß es aus Ermittlerkreisen. Französische Medien berichteten, er habe beim Betreten des Laden gerufen: „Ihr wisst, wer ich bin.“ Ermittler vermuten eine Verbindung zwischen diesem Angriff und dem Anschlag auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo, bei der am Mittwoch zwölf Menschen getötet worden waren.

Die Polizei veröffentlichte einen Fahndungsaufruf nach einem 32-jährigen Mann und einer 26-jährigen Frau, die in die Schießerei mit der Polizistin auf einer Straße im Süden von Paris verwickelt sein sollen. Es handelt sich um Amedy Coulibaly (32) und Hayat Boumeddiene (26).

Das Gebiet um das jüdische Geschäft wurde abgeriegelt, Schulkinder in der Gegend dürfen die Schulen derzeit nicht verlassen. Die Stadtautobahn wurde an der Porte de Vincennes in beide Richtungen gesperrt.

Erstürmung nicht ausgeschlossen

Die beiden Terrorverdächtigen im Fall Charlie Hebdo sollen den französischen Behörden angekündigt haben, den Märtyrertod sterben zu wollen. Dies sagte der französische Abgeordnete Yves Albarello am Freitag dem Fernsehsender i-Tele. Die Polizei stehe mit den Verdächtigen in Telefonkontakt, bestätigte eine Sprecherin der Stadt Dammartin-en-Goële.

Es sei vordringlich, einen Dialog mit den Verschanzten herzustellen, sagte der Sprecher des Innenministeriums, Pierre-Henry Brandet, am Freitag im französischen Fernsehen. Er betonte aber, die Polizei bereite sich auch auf eine Erstürmung vor, falls sich die Lage negativ zuspitze.

Mit einem Großeinsatz hat die französische Polizei nach eigenen Angaben am Freitag die Männer gestellt, aber noch nicht gefasst. Die Verdächtigen nahmen offenbar eine Geisel und verschanzten sich in einer Druckerei in Dammartin-en-Goële nordöstlich von Paris, wie die Polizei mitteilte. Die Polizei riegelte die Druckerei im Gewerbegebiet der Gemeinde weiträumig ab, drei Hubschrauber überflogen das Gebiet. Elite-Einheiten der Sicherheitskräfte waren im Einsatz, Scharfschützen bezogen Position auf den Dächern. Die Einsatzkräfte riegelten Zufahrten zu der Stadt ab.

Zuvor war es östlich von Paris zu einer Schießerei und einer Verfolgungsjagd gekommen. Der Vorfall ereignete sich auf einer Nationalstraße in der Nähe von Dammartin-en-Goële. Helikopter überflogen nach dem Schusswechsel zwischen der Polizei und den Verdächtigen die Gemeinde. Die französische Gemeinde hat ihre Bewohner aufgefordert, wegen des Anti-Terroreinsatzes die Häuser nicht zu verlassen. Die französischen Behörden wollen drei Schulen in der Nähe der Druckerei evakuieren.

Im Blick der USA

Der Flughafen Paris Charles de Gaulle hat als Reaktion auf die Geiselnahme die beiden Bahnen im Norden für Landungen gesperrt. Die landenden Flugzeugen werden auf die zwei Start- und Landebahnen im Süden des Flughafens verlagert. Im Norden könne weiter gestartet werden, sagte ein Sprecher des Flughafens am Freitag. Der Ort der Geiselnahme in Dammartin-en-Goële liegt nur wenige Kilometer vom Flughafen entfernt.

Die beiden flüchtigen mutmaßlichen Attentäter von Paris haben nach Angaben aus Washington seit Jahren auf einer Terrorliste der USA gestanden. Ein US-Vertreter sagte darüber hinaus am Donnerstag (Ortszeit), einer der Brüder habe sich 2011 von Vertretern des Terrornetzwerks al-Qaida im Jemen ausbilden lassen. Die Großfahndung nach den Männern, die bei einem Anschlag auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo zwölf Menschen getötet haben sollen, dauerte am Freitag an.

In Montrouge südlich von Paris hatte ein Mann am Donnerstagmorgen südlich von Paris zudem eine Polizistin tödlich verletzt und einen zweiten Polizisten schwer verletzt. Zwei Menschen aus dem „sehr nahen Umfeld“ des Verdächtigen wurden festgenommen. Sie seien am Freitagmorgen in der Region Essonne südlich von Paris verhaftet worden, heißt es aus Polizeiquellen.

Nach Informationen französischer Medien sollen sich die Festgenommenen und die beiden mutmaßlichen Angreifer auf das Satiremagazin Charlie Hebdo kennen. Innenminister Bernard Cazeneuve hatte am Donnerstag noch gesagt, es gebe bisher keine Hinweise auf eine Verbindung zwischen den beiden Taten.

88.000 Sicherheitskräfte

Der 32-jährige Chérif Kouachi und sein 34-jähriger Bruder Saïd werden für den vermutlich islamistischen Anschlag auf die Zeitung verantwortlich gemacht. Sie wurden am Donnerstag in Nordfrankreich vermutet, wo Spezialeinheiten mit Unterstützung von Hubschraubern auch in der Nacht zum Freitag systematisch ein abgegrenztes Gebiet durchkämmten.

Die Regierung hatte landesweit 88.000 Einsatzkräfte mobilisiert, um die mit Kalaschnikow und Panzerfaust bewaffneten Attentäter zu fassen und weitere Terrorakte zu verhindern. Am späten Donnerstagabend brachen die Sicherheitskräfte eine Suchaktion in einem Waldstück in Nordfrankreich, etwa 80 Kilometer von Paris entfernt, vorerst ergebnislos ab.

Nach dem Fund von Molotow-Cocktails und einer Islamistenflagge in einem Fluchtauto in Paris gehen die französischen Ermittler davon aus, dass das Duo weitere Anschläge geplant hatte. Die Polizei nahm neun Personen aus dem Umfeld der Terroristen in Gewahrsam, wie Innenminister Bernard Cazeneuve am Donnerstagabend bekanntgab.

Schießtraining im Jemen

Ein US-Vertreter sagte unterdessen am Donnerstag, die Kouachi-Brüder seien auf den Überwachungslisten des Landes als Terrorverdächtige geführt worden und ihre Namen hätten auch auf einer No-Fly-Liste gestanden. Damit war es den Brüdern verboten, in die USA zu fliegen.

Ein weiterer US-Vertreter sagte zudem unter Berufung auf französisches Geheimdienstmaterial, dass der ältere Bruder, Saïd, 2011 in den Jemen gereist sein soll, wo er von dortigen Al-Qaida-Verbündeten unter anderem Schießtraining erhalten haben soll. Der Vertreter bestätigte damit einen Bericht der New York Times, wonach sich Kouachi „ein paar Monate“ dort aufhielt.

Auch gibt es Hinweise darauf, dass sich mindestens einer der Brüder im vergangenen Jahr in Syrien aufgehalten habe, berichten der amerikanische Fernsehsender CNN und die Tageszeitung USA Today. Dabei gehen die Angaben darüber, ob es sich nur um einen Bruder oder um beide gehandelt haben soll, auseinander.

Zuvor galt eher der jüngere Bruder Chérif als behördenbekannt. Er war 2008 wegen Unterstützung von al-Qaida im Irak verurteilt worden. Von der dreijährigen Haftstrafe wurden anderthalb auf Bewährung ausgesetzt.

Schweigeminute im Sicherheitsrat

Den Brüdern wird vorgeworfen, am Mittwochvormittag die Redaktionsräume von Charlie Hebdo in Paris gestürmt und bei dem Überfall sowie auf der Flucht insgesamt zwölf Menschen getötet zu haben. Unter den Toten sind mehrere berühmte Karikaturisten sowie der Chefredakteur Charb. Die Satire-Zeitung hatte in der Vergangenheit unter anderem mit Mohammed-Karikaturen für Aufsehen gesorgt.

In ganz Frankreich gab es am Donnerstag – einem Tag der nationalen Trauer – eine Schweigeminute für die Opfer. Tausende gingen erneut auf die Straßen. Am Abend wurde das Licht am Eiffelturm ausgeschaltet. Der UN-Sicherheitsrat legte zum Gedenken an die Opfer am Donnerstag eine Schweigeminute ein. Der UN-Botschafter von Chile, Cristián Barros Melet, sagte, der Sicherheitsrat sei angesichts des „unerträglichen Angriffs“ in Paris in „tiefer Trauer“. Dann erhoben sich die Vertreter der 15 Mitglieder des UN-Gremiums und es wurde still im Sitzungssaal.

US-Präsident Barack Obama trug sich in der französischen Botschaft in Washington in ein Kondolenzbuch ein. Er zeigte sich solidarisch mit Frankreich und betonte die Verbundenheit beider Nationen. „Wir stehen an der Seite unserer französischen Brüder“, schrieb er nach Angaben des Weißen Hauses. Terror passe nicht zu „Freiheit und den Idealen, für die wir stehen“, fügte er hinzu. „Vive la France!“

Nach mehreren französischen Medien hilft auch die britische Guardian-Mediengruppe dem Satiremagazin Charlie Hebdo. Wie der Chefredakteur der zu der Gruppe gehörenden Zeitung The Guardian bei Twitter mitteilte, sagte das Unternehmen der Zeitschrift eine Spende von 100.000 Pfund zu. Das Geld solle dazu dienen, Charlie Hebdo zu erhalten, schrieb Alan Rusbridger am Donnerstag.

Hohe Anschlagsgefahr

Als Zeichen der Trauer wurde am Donnerstag die Beleuchtung des Eiffelturms abgeschaltet. Bild: dpa

Unterdessen warnte der Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 vor Terroranschlägen mit vielen Opfern in westlichen Ländern. Eine Kerngruppe militanter Islamisten in Syrien, die al-Qaida nahestehe, plane derzeit umfangreiche „Angriffe gegen den Westen“, sagte Andrew Parker. Gemeinsam mit seinen Partnern tue Großbritannien alles, um dies zu verhindern. „Wir wissen jedoch, dass wir nicht darauf hoffen können, alles zu stoppen.“

Parker warnte vor allem vor Kämpfern, die aus Syrien zurückkehren und eine „verdrehte Ideologie mitbringen“. Zwar sei die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) die derzeit offensichtlichste Bedrohung, allerdings seien auch Kämpfer, die al-Qaida nahestünden, weiterhin eine Gefahr, sagte er

Vertreter des Christentums, des Judentums und des Islam haben nach dem Terroranschlag in Paris ein gemeinsames Manifest gegen Gewalt veröffentlicht. „Im Namen Gottes darf nicht getötet werden“, schrieben ranghohe Vertreter von katholischer und evangelischer Kirche sowie von Juden und Muslimen in ihrer Erklärung in der Bild-Zeitung vom Freitag. „Bibel, Tora und Koran sind Bücher der Liebe, nicht des Hasses“.

Aufruf zu Großkundgebung in Berlin

In ihrer Erklärung warnten die Religionsvertreter außerdem vor Racheakten nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo. Die Taten seien „ein Angriff auf die Freiheit des Denkens, des Glaubens und unserer gemeinsamen Werte von Toleranz und Nächstenliebe, den wir zutiefst verabscheuen“, hieß es in der Erklärung.

In Deutschland hat der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel angesichts des Anschlags von Paris Parteien und Verbände zur einer gemeinsamen Großkundgebung in Berlin aufgerufen. Das berichtet die Bild-Zeitung am Freitag unter Bezug auf einen Brief Gabriels an demokratische Parteien, Religionsgemeinschaften, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Sozialverbände und andere gesellschaftliche Gruppen.

Darin ruft der Wirtschaftsminister dazu auf, für ein „friedliches und demokratisches Zusammenleben in Deutschland und Europa“ zu demonstrieren. Die Schüsse in Paris hätten „nicht nur den direkten Opfern gegolten, sondern auch der Idee einer freien und offenen Gesellschaft“.

Zwei Tage nach dem Anschlag haben überlebende Mitarbeiter des Satire-Magazins mit der Arbeit an der nächsten Ausgabe begonnen. Die Journalisten nutzten dafür am Freitag Räume der Zeitung Libération, wie Mitarbeiter der Tageszeitung mitteilten.

„Wir empfangen sie bei uns, denn sie haben noch nicht einmal mehr einen Stift“, sagte Pierre Fraidenraich von der Libération. „Ihre Computer und ihre gesamte Ausrüstung wurden versiegelt.“ Premierminister Manuel Valls und Kulturministerin Fleur Pellerin statteten der Redaktion einen Besuch ab, um ihre Solidarität mit den Journalisten zu bekunden.

Dieser Artikel wurde zuletzt um 15:16 Uhr aktualisiert. Frühere Meldungen über mögliche Todesopfer auf der Flucht und bei der Geiselnahme in Paris wurden korrigiert.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.