piwik no script img

Drei Jahre russische GefangenschaftEx-Bürgermeister von Cherson ist frei

Im Jahr 2022 wird Wolodymyr Mykolaienko von den russischen Besatzern festgenommen. Am Sonntag kam der frühere Bürgermeister von Cherson frei.

Wolodymyr Mykolaienko (im Tarnanzug links) mit Mithäftlingen nach der Freilassung durch Russland Foto: Ukrainian Presidential Office/ap

Berlin taz | „Slawa Ukraini“ (Ruhm der Ukraine), das sind die ersten Worte, die Wolodymyr Mykolaienko – eine ukrainische Fahne um den Hals geschlungen – über die Lippen kommen. Dann sagt er: „Junge Menschen brechen unter diesem Druck zusammen. Die Älteren haben viel durchgemacht, und die Hauptaufgabe der russischen Behörden besteht darin, uns physisch und moralisch zu zerstören. Das schaffen sie.“

Völlig gebrochen und zerstört scheint Mykolaienko nicht zu sein. Doch es braucht schon einige Fantasie, die kahlköpfige und ausgemergelte Gestalt wieder zu erkennen, wenn man ältere Fotos von ihm betrachtet. Doch jetzt hat das Martyrium ein Ende. Mykolaienko ist wieder frei – nach über dreieinhalb Jahren in russischer Gefangenschaft. Der frühere Bürgermeister von Cherson gehört zu den 146 ukrainischen Inhaftierten, die am vergangenen Sonntag, dem Unabhängigkeitstag der Ukraine, im Rahmen einer Austauschaktion zwischen Moskau und Kyjiw nach Hause zurück gekehrt sind.

In der südukrainischen Hafenstadt Cherson, das gleichnamige Gebiet ist aktuell in Teilen von russischen Truppen besetzt, wird Mykolaienko am 8. April 1960 geboren. An Instituten in Cherson und Sewastopol lässt er sich zum Schiffsmechaniker ausbilden. Von 1993 bis 2006 ist er Chef eines Privatunternehmens. Danach geht er in die Politik und schafft den Sprung in das Stadtparlament von Cherson. Vier Jahre später verteidigt er seinen Sitz.

Während der Euromaidan-Proteste 2013 und 2014, die mit dem Sturz des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch enden, schlägt sich Mykolaienko auf die Seite der Regierungskritiker*innen. Laut des ukrainischen Webportals zensor.net soll er die Nacht vom 18. auf den 19. Februar 2014, als Janukowitschs Berkut-Einheiten auf die De­mons­tran­t*in­nen schießen, auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw verbracht haben.

2022 ließ er einen kranken Mitgefangenen den Vortritt

Im Mai 2014 wird Mykolaienko bei außerplanmäßigen Wahlen erstmals zum Bürgermeister von Cherson gewählt. Er sei wohl das erste Stadtoberhaupt von Cherson, das mit einem öffentlichen Minibus zur Arbeit fahre und in einer ganz gewöhnlichen Plattenbauwohnung lebe, weiß zensor.net zu berichten. Anfang 2015 – im Süden und Osten der Ukraine finden „pro-russische Kundgebungen“ statt – macht Mykolaienko eine klare Ansage: „Cherson ist ukrainisch. Das war es, ist es und wird es sein. Wir werden lokale Separatisten oder separatistische Akteure von außen nicht mit Brot und Salz begrüßen. Wenn nötig werden wir schießen, um zu töten. Alle sind gewarnt und verstehen den Ernst der Lage“, zitierten ihn ukrainische Medien damals. Im Herbst stehen erneut Lokalwahlen an. Im November desselben Jahres gewann er die Stichwahl bei den diesmal planmäßigen Wahlen und sicherte sich eine fünfjährige Amtszeit.

Am 25. April 2022 besetzten russische Truppen das Stadtparlament von Cherson. Eine Woche zuvor hatten sie Mykolaienko entführt, weil er sich weigerte, mit den Besatzern zu kollaborieren. Auch Drohungen, ihm die Beine zu brechen, änderten daran nichts. Zunächst verliert sich seine Spur, doch dann bestätigt das Internationale Rote Kreuz seine Festnahme.

Laut Andrij Jermak, dem Leiter des ukrainischen Präsidialamts, hätte Mykolaienko bereits 2022 ausgetauscht werden können. Doch er überließ einem schwer kranken Mitgefangenen den Vortritt. Doch jetzt ist er wieder da. Besonders Mykolaienkos Mutter wird sich freuen: Sie wird am Montag dieser Woche 91 Jahre alt. Ein Grund mehr zu feiern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare