Drohnenangriffe auf Kiew: Das Brummen in der Nacht

Seit Oktober werden Kamikaze-Drohnen in der Ukraine eingesetzt. In Westeuropa wird wieder darüber diskutiert, ob das Land sich nicht ergeben sollte.

Frauen neben einem Supermarktregal in der Ukraine

Eine Art Brummen, ähnlich dem eines Rasenmähers: Alltag in Kyjiw mit Drohnenangriffen Foto: Anna Dabrowska/reuters

Der Handywecker klingelt um sechs Uhr morgens, Kiewer Zeit. Es ist mitten im Herbst, es wird erst spät hell. Noch im Dunkeln höre ich zum ersten Mal die Sirenen des Luftalarms. Seit einigen Wochen nehmen die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt diese Sirenen wieder sehr ernst, denn im Oktober hat Russland die Ukraine massiv mit Raketen beschossen. Eine davon traf das Stadtzentrum von Kiew. Unterschiedlichen Angaben zufolge starben dabei zwischen fünf und acht Menschen. Russische „Präzisions“-Waffen haben auf gewöhnlich „präzise“ Weise Zivilisten getötet, damit sich russische Propagandisten darüber freuen können, dass es „begonnen“ habe mit den „Luftangriffen auf die Entscheidungszentralen“.

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Heute hat Russland die ukrainische Hauptstadt „präzise“ mit iranischen Kamikaze-Drohnen angegriffen. Die erste Explosion, die sich wie ein Donnergrollen anhörte, ereilte mich im Badezimmer. Die zweite, als ich gerade das Haus verließ. Als ich schnell in Richtung Metro gehe, höre ich einige Schüsse. Sie versuchen, tieffliegende Shahed-Drohnen mit Gewehren abzuschießen, zum Teil mit Erfolg. Aber jetzt höre ich noch zwei Explosionen. Die Erde bebt nicht – es ist also immerhin keine Rakete. Aber instinktiv ziehe ich den Kopf ein und beschleunige meine Schritte.

Die Menschen beschreiben das Geräusch der Shahed-Drohnen als eine Art Brummen, ähnlich dem eines Rasenmähers. Scherzhaft werden die Drohnen deshalb auch „Moped“ genannt. Eins dieser „Mopeds“ fiel gestern auf ein Wohnhaus. Aus den Ruinen haben Rettungskräfte vier Leichen geborgen, die anderen Bewohner konnten gerettet werden. Ich bin drei Stunden lang Metro gefahren, um nicht auf den überfüllten Bahnsteigen zwischen anderen Schutzsuchenden zu sitzen. Als ich wieder nach draußen kam, strahlte die Sonne, für einen Oktobertag war es herrliches Wetter. Bis zum nächsten Alarm blieben noch zweieinhalb Stunden.

Ich bin davon überzeugt, dass das Thema Ukraine westlichen Lesern schon zum Hals raushängt. Ehrlich, wie viel kann man über dieses Land sagen und schreiben, wie viel Geld dafür spenden, wie viele Flüchtlinge aufnehmen und seine eigenen Bedürfnisse verleugnen, weil man plötzlich sparen muss.

Schade nur, dass die Bewohner der Ukraine es sich nicht erlauben können so zu leben, als sei nichts geschehen. Es ist schon so viel passiert – und es geht weiter. Während die „Meinungsmacher“ in ihren teuren Anzügen Artikel darüber schreiben, dass die Ukraine sich ergeben solle, denn „Verstehen Sie bitte, es ist immerhin Russland…“. Allen denjenigen, die solche und ähnliche „Kompromisse“ vorschlagen, kann man eigentlich nur eins wünschen: plötzlich und unerwartet mitten in der Nacht durchs Fenster das Geräusch eines Rasenmähers zu hören.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

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stammt aus der Ostukraine und war nach Beginn des Krieges im Donbass 2014 nach Kyjiw gekommen. Am ersten Kriegstag 2022 war er nach Lwiw geflohen, nach 100 Tagen ist er zurück in Kyjiw. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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