Dschihadisten von den Malediven: Das Paradies der anderen

Viele Touristen merken nicht, dass die Malediven ein muslimisches Land sind. Die Quote an ausgereisten IS-Kämpfern ist nirgends höher.

Eine Frau mit schwarzem Gesichtsschleier schiebt ein Fahrad über eine Wiese, hinter ihr läuft ein kleines Mädchen mit Kopftuch und rotem Rock,

Viele maledivische Frauen tragen den Niqab Foto: Andrea Borgatta

MALÉ taz | „Das sind tapfere Kämpfer, nicht wahr?“ sagt der Taxifahrer, als er erfährt, dass sein Fahrgast gerade aus dem Mittleren Osten kommt und Journalistin ist. Wenn man in Paris, Brüssel oder Tunis mit Muslimen über den IS spricht, gucken alle beschämt und sagen: Die sind ja völlig verrückt. Auf den Malediven heißt es: Das sind Helden.

Westliche Touristen bemerken oft gar nicht, dass dies ein muslimisches Land ist. Dabei sind die Malediven das nicht-arabische Land mit der höchsten Anzahl an ausländischen Kämpfern pro Kopf: etwa 200 auf 400.000 Einwohner. Die Regierung bestreitet dies. Aber jeder hat einen Bruder, einen Cousin, der in Syrien kämpft. Als im August die ganze Welt die Olympischen Spiele schaute, verfolgten die Leute hier die Schlacht um Aleppo. Und drückten die Daumen für al-Qaida.

Eigentlich sind die Malediven ein Archipel mit 1.192 Inseln. Für die Malediver gibt es nur eine Insel: Malé, die Hauptstadt. Auf den anderen befinden sich ein paar Läden, eine Schule oder ein Fußballfeld. Für alles andere muss man nach Malé, wo auf 5,8 Quadratkilometern offiziell 130.000 Menschen leben, in Wirklichkeit sind es doppelt so viele.

18 Personen teilen sich ein Zimmer

Von der Buruzu Magu, einer der Hauptstraßen in Malé, taucht man in eine winzige Gasse ein, auf den ersten Blick pittoresk wirkend, mit den pastellfarbenen Häusern. Hinter der ersten Tür rechts wohnen sie zu fünft, hinter der ersten Tür links zu neunt; hinter der zweiten Tür rechts leben ausschließlich Immigranten, alle aus Bangladesch, es sind 18 Personen, die sich ein Zimmer teilen, zum Schlafen wechseln sie sich ab.

Im nächsten Haus hinter einer Tür aus billigem Sperrholz sitzen Mutter und Tochter im Dunkeln, neben ihnen auf einer verschlissenen Matte liegt eine alte Frau und röchelt, verschlissen auch sie und völlig abgemagert. 16 Menschen leben in diesem Haus, zwischen Lumpen und kaputten Schuhen, den mit Jute und Blech ausgebesserten Wänden, den Ausdünstungen der Körper.

Die Zimmer haben weder Tische noch Stühle, nicht einmal Fenster. An der Wand hängt der Flachbildfernseher, den sie bei den letzten Wahlen im Tausch für ihre Stimme bekamen. Ein mittleres Einkommen hier beträgt 8.000 Rufiyaa, umgerechnet 470 Euro, in etwa so viel wie die Stromrechnung hoch ist. Die Miete für das Haus kostet 20.000 Rufiyaa.

Alkohol ist verboten, Heroin billiger als Wodka. „Früher oder später landen alle im Gefängnis“, sagt ein Ex-Häftling

Kinaan ist in so einem Haus groß geworden. Sechs Leute in einem Zimmer, das Meer zum Duschen. Jetzt ist er 31 und sein Name berüchtigt in der Kriminellenszene Malés. Ist man mit ihm, im eleganten Anzug, unterwegs, ducken sich alle weg. 30 Gangs haben Malé unter sich aufgeteilt, jede hat zwischen 50 und 500 Mitgliedern.

Mit 15 landete Kinaan das erste Mal im Gefängnis. Mit 17 wurde er heroin- und alkoholabhängig. Noch heute dealt er, um sich durchzuschlagen. „Weil dir hier niemand eine zweite Chance gibt“, sagt er. „Ich bin für jede Art von Arbeit bereit, aber niemand hat mich je gewollt. Niemand. Früher oder später landen alle im Gefängnis, und alle wegen Drogen, denn wenn du zu zehnt auf einem Zimmer lebst, lebst du in Wirklichkeit auf der Straße.“

Selbst Alkohol ist auf den Malediven verboten. Heroin koste sehr viel weniger als Wodka, sagt er: „Und das Absurde ist, dass die Straftaten der Armen strengstens geahndet werden. Für den Diebstahl einer Mango riskierst du ein Jahr.“ Parallel dazu herrsche totale Straffreiheit – für die, die den Politikern zu Diensten sind. Mit richtigen Tarifsätzen. 1.600 Dollar für den Überfall auf einen Journalisten. 600 für das Anzünden eines Autos. „Und hinterher holen sie dich wieder aus dem Gefängnis – wenn sie wollen.“

5.000 Dollar pro Nacht im Resort

Kinaan ist zweimal verurteilt worden, aber musste keine seiner Strafen antreten. Seit zehn Jahren versucht er sein Leben zu ändern. Er beschloss, sich eine zweite Chance zu geben: nach Syrien zu gehen. „Das ist kein Problem, die möchten uns loswerden. Wir haben ihre Befehle, ihre Verbrechen ausgeführt, wir kennen ihre Geheimnisse.“ Aber weil sein Bruder Ihsaan* für den Mord an einem Politiker im Gefängnis sitzt, hat er diesen Plan fürs Erste aufgegeben.

Er arbeitet jetzt in einer psychologischen Beratungsstelle, die sich um die Wiedereingliederung von Drogenabhängigen und Kriminellen kümmert – und damit auch potentielle Dschihadisten von der Ausreise nach Syrien abhalten soll. Das Klientel überschneidet sich. „In Syrien gibt es wenigstens einen guten Grund zu sterben“, sagt Kinaan. „Wir wollen alle weg. Alles ist besser als Malé.“

Die Todesstrafe ist 2015 wieder eingeführt worden, die Gesetzgebung hat die Scharia offiziell anerkannt. Doch auf den Malediven bedeutete der Islam immer schon Politik. Als Mamoun Abou Gayoom 1978 aus Kairo zurückkehrte, wo er islamisches Recht studiert hatte, waren die Malediven kaum mehr als ein wildes Fischerarchipel. Bei weitem kein Paradies, bis heute nicht, nur Fisch und Kokosnüsse, keine einzige Süßwasserquelle. Gayoom blieb 30 Jahre an der Macht: Sein Wort war nicht das Wort eines Präsidenten, sondern Gottes Wort.

Er dachte sich auch das Konzept der Resorts aus, den 5.000-Dollar-pro-Nacht-Tourismus. Die Bevölkerung konzentrierte er in Malé und unterband jeden Kontakt mit anderen Kulturen. Von den 1.192 Inseln sind nur 199 bewohnt – 111 sind Resorts. Außerhalb ihrer Arbeitszeiten ist es den Angestellten verboten, sich dort aufzuhalten. Zudem sind die Resorts von ausländischen Unternehmern erbaut worden.

Fünf Prozent gehört 95 Prozent des Reichstums

Das Gesetz sieht vor, dass sie mit einer maledivischen Firma zusammenarbeiten – und die ist normalerweise ziemlich gut mit einem Politiker befreundet. Oder gehört ihm gar. Fünf Prozent der Bevölkerung hier verfügen über 95 Prozent allen Reichtums.

Nicht jeder Oppositioneller ist einfach ein Oppositioneller: Er gilt als Ungläubiger. Selbst der Tsunami 2004 wurde als Strafe Gottes interpretiert. Deswegen sind heute viele Jungen wie Hassan*. Er ist auf dem Sprung nach Syrien. Hassan ist 22 und schlank, trägt Flipflops und Jeans. Sein Bart ist vier Zentimeter lang. Er ist ein schüchterner, schweigsamer Junge. Vor allem aber ist er bereit: Die 3.000 Dollar für die Reise hat er zusammen, angespart durch Haschischverkauf.

Er war noch nie fort. Sämtliche Landkarten der Türkei hat er aufs Handy geladen, hat alles über die Grenze in Erfahrung gebracht. Über Syrien weiß er weniger. Wie komplex das Land ist. Die Konflikte zwischen den Rebellen, die Plünderungen, den Schmuggel – aber eigentlich geht er ja auch nicht nach Syrien, sondern „ins Paradies“. Was er dort erwartet? „Eine Gesellschaft, in der wir Menschen sein können, nicht Aasgeier wie hier.“

Seine Vorbilder sind Mohammed und Malcolm X

Hassan lacht, wenn man ihm sagt, dass man sich bei uns erzählt, dass die ausländischen Kämpfer kaum etwas über den Islam wissen. „Kein Muslim würde sich je als Islamexperten bezeichnen, nur ein Imam“, sagt er. „Der Koran beginnt mit der Aufforderung: Lerne.“ Dann setzt er hinzu: „Wie Kant, nicht wahr? Sapere aude. Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen.“ 20 Jahre ist er alt, er wirkt wie ein Student, was er ja auch ist, mit seinen Jeans, Polohemd und Umhängetasche. Ein Student der Scharia-Fakultät.

„Islam bedeutet Gerechtigkeit. Wir könnten wie die Schweiz sein, stattdessen läuft alles über Gefälligkeiten. Wenn du krank wirst, klopfst du an die Tür des Präsidenten und sie zahlen dir eine Kur im Ausland.“ Aus diesem Grund lehne sich auch niemand auf. „Wir sind keine Bürger, wir sind Bittsteller.“ Aber warum fängt er dann nicht mit den Malediven an, warum Syrien? „Wir sind Muslime“, antwortet Hassan. „Eine Gemeinschaft. Und Syrien hat Priorität. “ Sein Vorbild – gleich nach Mohammed – ist Malcolm X.

Auf den Malediven hätte Hassan noch viel zu tun. Nur Muslime haben die Staatsbürgerschaft, in der Schule ist Islam ein Hauptfach, und fünf Mal am Tag schließen die Geschäfte zum Beten: Aber die Verkäufer bleiben drinnen und trinken Kaffee. Sie gehen nicht in die Moschee. Alkohol ist verboten, aber an der Bar des Island Hotels am Flughafen bekommt man ihn gegen Geld. Und den Minister für islamische Angelegenheiten hat man mit zwei Prostituierten erwischt und gefilmt.

Der Islam hat den Buddhismus abgelöst

Aber wenn eine Frau außerhalb der Ehe Sex hat, wird sie vor dem Gerichtsgebäude ausgepeitscht. Viele maledivische Frauen tragen den Niqab, ganz in Schwarz. „Diese extreme Auslegung des Islams ist neu“, sagt die Journalistin Mariyath Mohamed. „So wie in Gaza oder Bagdad. Unsere Mütter trugen vor 30 Jahren keinen Schleier.“

Der Islam hat den Buddhismus abgelöst. In den älteren Moscheen sieht man, dass es umgewandelte Tempel sind. Dann kam Gayoon. Und nicht nur Gayoon. Auch alle, die in den späten 60ern nach Saudi-Arabien zum Studieren gingen, kehrten zurück. „Für Gayoom war das eine Gefahr“, sagt die Journalistin. „Also kamen sie ins Gefängnis, alle Islamisten, einer nach dem anderen. Sie wurden gefoltert. Und getötet. Und in Märtyrer umgewandelt.“

Die Regierung bestreitet, dass es Dschihadisten gibt. „Einerseits scheuen sie den Konflikt, andererseits teilen sie gewisse Ideen“, sagt Anaan*, 23 Jahre, ist einer der bekanntesten Dissidenten im Land. Ein Menschenrechtsaktivist. Aber er ist auch der Cousin von Hassan. „Ich verurteile seine Entscheidung nicht“, sagt er. „Aber für mich ist das ein verlorener Krieg.“ Nicht der Krieg an sich ist für ihn verkehrt, sondern weil er zum Scheitern verurteilt ist.

„Schau mal, wo wir sind“, sagt er. Der Strand von Malé ist künstlich – und vergiftet durch die Abwasser des Krankenhauses. „Nicht einmal das Meer bleibt uns. Welche Alternativen haben wir? Wenn du aus einer reichen Familie kommst, gehst du ins Ausland zum Studieren. Und sonst nach Syrien.“

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