ESC-Kolumne #Queerjungfrauen V: Bedächtig möge weiterkommen

Materialschlachten lohnen sich beim ESC nur selten. Gerade die Osteuropäer samt Holzrhönrad und Trapez scheinen das nicht zu wissen.

Für die russischen Tolmatschewa-Zwillinge schämt sich unser Autor besonders. Bild: dpa

KOPENHAGEN taz | Eurovisionäre Pop-Völkerfreundschaft schön und gut, aber: Von den 37 Ländern, die seit voriger Woche nach Kopenhagen anreisten, können nach Mitternacht bereits sechs wieder ihre Koffer packen.

Unter den 16 Teilnehmern des ersten Semifinales – übertragen ab 21 Uhr via eurovision.de, Phoenix oder EinsPlus – sind FavoritInnen wie die Schwedin Sanna Nielsen oder der Armenier Aram MP3, aber hauptsächlich lässt sich sagen: Der postsowjetische Block ist im ersten Semifinale im Megapack vertreten. Russland, die Ukraine, Moldawien und Aserbaidschan sind dabei; und zählt man noch jene Aspiranten dazu, in deren Heimat eine hoher Anteil russischsprechender Menschen lebt, müsste man auch noch Estland und Lettland nennen.

Wer von ihnen weiterkommt, ist offen. Gleichwohl: Es gibt ein paar Highlights. Und hierzu sind nicht die Osteuropäer zu zählen, sondern die niederländische Formation The Common Linnets, deren „Calm After The Storm“ in der Tat ruhig und gemächlich performt, aber von sehr eleganter Coolness getragen wird.

Der Mann und die Frau, die das Nachbarland uns geschickt hat, sind dort etablierte Stars aus dem Indiespektrum – und bedienen nichts von dem, was man typischerweise von Eurovisionsacts erwarten darf: Frauen in sehr hohen Schuhen, kreischende Tremoli, wie entblößt wirkende Mimiken. Nein, die Holländer, von fern an Fleetwood Mac erinnernd, tun so, als befänden sie sich in einem Club, in dem zufälligerweise 12.000 Leute sitzen und hoffentlich nicht grölen, wenn sie sehr bedächtig singen.

Holzrhönrad auf der Bühne

Die Osteuropäer hingegen gucken sich hinter den Kulissen nicht mit einem halben Auge an. Die russischen Tolmatschewa-Zwillinge haben ein Lied parat, das selbst nach den Maßstäben von Kirmes- oder Hochzeitsmusikanten eher fremdbeschämt werden muss. „Shine“? Nein, sie hätten es gleich „Deep Shadow“ nennen sollten.

Dabei wäre doch zu wünschen, dass „Gayropa“ (Kreml-Einschätzung der moralischen Lage in der EU) Russland gut findet – es wäre der Beweis, dass man sich von homophobischen Krakeelern aus Russland nicht irritieren lässt. Die Ukraine möchte man mögen, aber „Tick-Tock“ arbeitet mit einer Art Holzrhönrad auf der Bühne – diesen zirzensischen Aspekt braucht es offenbar, um über die flache Idee des Liedes hinwegzutäuschen.

Die Aserbaidschanerin hingegen hat sich eine prima Ballade – irgendwie hört man in Baku auch Rihanna oder ähnliche Frauen – verfassen lassen: Doch auch sie vergeigt sich einen smarten Auftritt, weil sie zuviel auf der Bühne an Zirkushaftem bietet. Während ihres Liedes turnt eine Frau auf halber Hallenhöhe an einem Trapez herum. Muss das sein? Muss es, wie auch in so vielen Acts, geschehen, dass die alle denken, man müsse mehr als ein sensationelles Lied bieten, das am besten glaubwürdig ins Mikrofon angestimmt wird?

Aller Tand täuscht womöglich

Materialschlachten haben sich beim ESC nur ganz ausnahmsweise gelohnt. Der Norweger Alexander Rybak und seine Cirque-de-Soleil-artige Tanznummer von 2009 oder Dima Bilan, der einzige russische Gewinner, 2008, der sich auf der Bühne vom Eiskunstläufer Jewgenij Pluschenko auf Tefloneis umkurven ließ.

Aller Tand täuscht womöglich nur darüber hinweg, rein liedästhetisch eben kein „Let It Be“ oder „Beautiful“ im Angebot zu haben: Weniger ist doch meist immer mehr. Favoritin heute abend: Sanna Nielsen aus Schweden, die „Undo“ singt und die nichts dafür kann, mit Anfang dreißig auf Mitte vierzig geschminkt zu werden.

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