Eigenbedarfskündigungen in Berlin: Die Angst macht die Menschen krank
Eigenbedarfskündigungen zerstören den Alltag der Betroffenen. Eine Mieterin im Wedding kann nach dem Urteil in ihrer Räumungsklage wieder aufatmen.
Der zuständige Richter legte in seiner Urteilsbegründung dar, dass kein berechtigtes Interesse des Vermieters vorliege, da dieser die Wohnung seiner Ehefrau dauerhaft nutzen könne und somit kein tatsächlicher Eigenbedarf bestehe. Der Vermieter aus Koblenz hatte vor Gericht angegeben, die Wohnung künftig während seiner beruflichen Aufenthalte in der Stadt selbst nutzen zu wollen.
Dem Urteil war für Ceri eine Zeit der Unsicherheit und des Kampfes vorausgegangen, die sich im Gesicht der Frau festgeschrieben hat. Die Belastung habe sie nur ertragen können, weil sie viel Unterstützung aus ihrem Umfeld erhalten habe: Freunde, Organisationen wie das Nachbarschaftszentrum Kiezhaus und die Gruppe betroffener und solidarischer Mieter:innen „Gemeinsam gegen Eigenbedarfskündigungen“, in dem sie seit ihrer Kündigung aktiv ist, hätten ihr zur Seite gestanden, berichtet die aus der Türkei stammende Frau.
Doch trotz dieser Solidarität hat sich die gesundheitliche Situation von M. Ceri in den vergangenen Monaten verschlechtert. Ihr Psychiater habe dem Gericht bescheinigt, dass der Verlust ihrer Wohnung eine aus medizinischer Sicht unzumutbare Härte für die an chronischen Kopfschmerzen und einer mittelgradigen Depression leidenden Frau darstelle.
Krank vor Sorge
Ceris Anwältin, Carola Handwerg, hat in den vergangenen Jahrzehnten mehrere hundert Beratungsgespräche und Gerichtsverhandlungen zu Eigenbedarfskündigungen geführt. Sie teilt die Bedenken des Arztes: „Die Angst, die eigene Wohnung zu verlieren, macht die Betroffenen krank. Viele haben, wie auch Frau Ceri, mit Panikattacken zu kämpfen.“
Ceri vermutet, sie habe diese Belastung nur ertragen müssen, weil der Vermieter sie als unliebsame Mieterin loswerden wollte. 2022 habe er Modernisierungsmaßnahmen in ihrer Wohnung und eine Mieterhöhung angekündigt, die sie aufgrund ihrer angespannten finanziellen Situation nicht akzeptieren wollte, worauf der Vermieter entgegnet haben soll: „Dann regele ich das eben anders.“
Rechtsanwältin Handwerg kommentiert das Verhalten des Vermieters gegenüber der taz so: „Nachdem der Vermieter von der Mieterhöhung Abstand genommen hatte, hat er den Eigenbedarf ausgesprochen. Das sind Konstellationen, bei denen es große Zweifel daran gibt, dass die Geschichte stimmt.“
Der Vermieter bot Ceri eine im selben Wohnhaus gelegene Einzimmerwohnung mit 26 Quadratmetern als gütlichen Ausgleich an. Ceri lehnte dies jedoch ab und verweist darauf, dass der Vermieter für seine kurzen Aufenthalte diese Wohnung selbst beziehen könne. Vor Gericht erklärte der Mann, die Wohnung sei für seinen eigenen Bedarf zu klein. Außerdem wolle seine Familie ihre Wohnungen in Berlin „in den Griff“ bekommen – auch weil seine 14-jährige Tochter möglicherweise bald nach Berlin ziehe.
Die üblichen Begründungen
Für Handwerg sind solche Begründungen vertraut. Häufig, sagt die Rechtsanwältin, werde vorgeschoben, ein nahes Familienmitglied wolle die Wohnung nutzen. In etwa der Hälfte ihrer Fälle ziehe die angebliche Bedarfsperson jedoch letztlich gar nicht ein. Den Richter in Ceris Fall überzeugte die Darstellung des Vermieters sodann auch nicht. In der Urteilsbegründung heißt es, dass der angeführte Nutzungswunsch weder ernsthaft noch nachvollziehbar begründet sei und bei der Kündigung vielmehr wirtschaftliche Überlegungen im Vordergrund gestanden hätten.
Eigenbedarfskündigungen gehen aber nicht immer zugunsten der Mieter aus und haben oft den Verlust von Wohnraum für die Betroffenen zur Folge. Wie viele Klagen im Zuge von Eigenbedarfskündigungen letztlich zum Auszug oder zu einer Zwangsräumung führen, ist zwar nicht beziffert.
Die Berliner Mietergemeinschaft (BMG) geht jedoch davon aus, dass Eigenbedarfskündigungen nach aufgelaufenen Mietschulden die zweithäufigste Ursache für Zwangsräumungen sind. 2024 gab es insgesamt gab es in Berlin 2.495 Zwangsräumungen – ein Anstieg um 31 Prozent gegenüber 2020.
Die BMG sieht mehrere Ursachen für die steigenden Zahlen. Auf taz-Anfrage antwortete der Pressesprecher der BMG, Rainer Balcerowiak: „Für Besitzer von vermieteten Eigentumswohnungen ist es lukrativ, eine Wohnung ‚leer zu ziehen‘. Denn für leere Wohnungen sind auf dem angespannten Wohnungsmarkt sowohl höhere Mieteinnahmen als auch erheblich höhere Preise bei deren Verkauf zu erzielen.“
Sperrfrist für Eigenbedarfskündigungen läuft aus
Die aktuelle Dynamik würde dadurch verstärkt, dass in vielen Fällen die seit 2013 geltende zehnjährige Sperrfrist für Eigenbedarfskündigungen auslaufe und sich durch die seit 2021 bestehende berlinweite Genehmigungspflicht für Umwandlungen in Eigentumswohnungen der Markt verengt habe – Investoren konzentrierten sich daher verstärkt auf bereits umgewandelte Bestände, sagt Balcerowiak.
Zahlen des Berliner Mietervereins (BMV) zeigen das Ausmaß der Problematik: 2019 führte der BMV 231 Eigenbedarf-Beratungen durch, 2023 waren es 5.867 Beratungsfälle – ein Anstieg um das 25-Fache.
Dabei ist die Geltendmachung von Eigenbedarf nur einer von zahlreichen Hebeln, die den Verdrängungskreislauf in Berlin seit Jahren in Gang halten: Mietsteigerungen, Modernisierungen, renditegetriebene Investments und die Dynamik von Gentrifizierungsprozessen machen ihren Anteil aus und haben in der Vergangenheit zu einer schleichenden Umkrempelung ganzer Stadtteile geführt. Zurück bleiben zahlkräftige Neukunden in sanierten Altbauten und immer häufiger ausgebeutete Arbeitsmigranten, die eingeengt in Zweckgemeinschaften möblierte Apartments und Ferienwohnungen beziehen.
Für die gekündigten Mieter ist hingegen oftmals Schluss in ihrem Kiez: Eine Ersatzwohnung mit ähnlichem Standard und Preis in zentraler Lage zu finden, kann als illusorisch gelten – weshalb kaum noch jemand freiwillig seine Mietwohnung in zentraler Lage aufgibt. Wer jedoch wegen einer Eigenbedarfskündigung ausziehen muss, landet häufig am Stadtrand oder in der Wohnungslosigkeit.
Auch M. Ceri fand weder in ihrem Kiez noch bei der Suche bis an die Stadtgrenze eine Wohnung, die dem Standard ihrer jetzigen 51-Quadratmeter-Wohnung entspricht. Trotz intensiver Bemühungen und rund 120 Bewerbungen habe sie keine einzige Zusage erhalten, sagt die Sozialhilfeempfängerin. Das Jobcenter übernehme monatlich höchstens 550 Euro Miete – eine Summe, die auf dem Berliner Wohnungsmarkt, insbesondere in ihrem Viertel, längst nicht mehr reicht.
Umso wichtiger sei für Ceri eine Perspektive in ihrer jetzigen Wohnung, in der sie sich ein Leben und Freundschaften aufgebaut hat. In ihrem Fall habe der Konflikt mit dem Vermieter einen für sie erfreulichen Ausgang genommen, sagt Ceri. Sie kenne jedoch viele Menschen, denen es anders ergangen sei. Die Verantwortung dafür sieht sie auch bei der Politik „Es kann nicht sein, dass der Staat die Mieter in dieser Stadt alleinlässt und gegen den Missbrauch von Eigentum nichts unternimmt.“
Auch die BMG sieht dringenden politischen Handlungsbedarf und fordert ein generelles Verbot für Eigenbedarfskündigungen von Bestandsmietern. „Wer zum Zeitpunkt der Umwandlung seiner Miet- in eine Eigentumswohnung einen regulären, unbefristeten Mietvertrag hatte, muss dauerhaft geschützt bleiben“, sagt Pressesprecher Rainer Balcerowiak.
Diesen Schutz hat M. Ceri nun ein Gerichtsurteil beschert. Die vergangenen 14 Monate seit ihrer Kündigung kann sie dem Vermieter jedoch nicht in Rechnung stellen.
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