Ein Jahr Lehman-Pleite: In Schockstarre

Die Lehman-Pleite war der Herzinfarkt der schon zuvor von Panikattacken heimgesuchten globalen Finanzwelt. Zwar gelang die Wiederbelebung. Die Therapie blieb bislang aus.

Geschädigte der Lehman-Pleite demonstrieren vor dem Bundeskanzleramt in Berlin. Bild: ap

15. September 2008. Um 7.07 Uhr setzt die Nachrichtenagentur AP eine Eilmeldung ab. Drei dürre Zeilen kündigen ein weltweites Beben an. Die Überschrift lautet: "Lehman Brothers will Konkurs anmelden". 158 Jahre nach ihrer Gründung wird die New Yorker Investmentbank zum bislang prominentesten Opfer fauler Hypothekenkredite in den USA. Doch es ging nicht nur um eine einzelne Bank. Die Lehman-Pleite offenbarte, wie eng die Banken weltweit miteinander vernetzt sind. Der Konkurs der Investmentbank führt zum Herzinfarkt des globalen Finanzsystems. Wie konnte es dazu kommen?

Lehman selbst konnte die seit Monaten anschwellenden Milliardenverluste nicht mehr schultern, die das Platzen der Spekulationsblase auf dem US-Immobilienmarkt forderte. Fast neun Millionen Amerikaner hatten Haus oder Wohnung mit Krediten finanziert, deren schnell steigende Raten sie nicht mehr bezahlen konnten. Als sie ihre Darlehen ab Mitte 2006 massenhaft nicht mehr bedienten, sorgte das weltweit für Unruhe. Denn die faulen Kredite waren zu Wertpapieren gebündelt worden, die Banken aus der ganzen Welt in den Jahren zuvor gierig aufgekauft hatten. Dann aber fielen die Preise für US-Immobilien ins Bodenlose, weil mit dem Ausfall der Schuldner immer mehr Häuser zum Verkauf standen. Seit Mitte 2006 haben Häuser in den USA im Durchschnitt 32 Prozent ihres Werts verloren.

Das alles traf nicht nur Lehman Brothers. Im Jahr vor der Pleite der Investmentbank hatten Banken weltweit bereits hunderte Milliarden Dollar abgeschrieben und standen selbst kurz vor dem Ruin. Schon im September 2007 hatte es die englische Northern Rock Bank erwischt, die nur durch die Verstaatlichung gerettet werden konnte. Im März 2008 folgte die US-Großbank Bear Stearns. Ihr Kollaps ließ sich nur durch einen Notverkauf an den Konkurrenten JP Morgan Chase vermeiden. Ab Juli 2008 leitete die USA die schrittweise Verstaatlichung der größten Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac ein, die mit 5.200 Milliarden US-Dollar etwa die Hälfte aller US-Eigenheimkredite garantieren.

Genau ein Jahr nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers planen geschädigte Kleinanleger für (den morgigen) Dienstag einen Protestmarsch (14.30 Uhr) durch Frankfurt. Hintergrund sind Zehntausende Kleinanleger allein in Deutschland, die Schuldscheine von Lehman Brothers kauften und nach der Pleite teilweise ihre gesamte Anlage verloren.

"Die Lehman-Geschädigten verlangen weiterhin eine umfassende Rückabwicklung der Zertifikate als Konsequenz aus der weit verbreiteten Falschberatung durch die Banken", erklärte die Interessengemeinschaft der Lehman-Geschädigten in Deutschland. Sie kritisiert, dass sich Banken ihrer Verantwortung nicht stellten oder sich hinter Kulanzregelungen ohne Schuldanerkenntnis verschanzten. Auch die beschlossene Stärkung der Anlegerrechte ab dem kommenden Jahr helfe den bereits Geschädigten nicht. Die Kleinanleger werfen verschiedenen Banken vor, ihnen Lehman-Zertifikate wegen hoher Provisionen aufgeschwatzt zu haben.

Neben der Bankenmetropole Frankfurt am Main sollen auch in Hamburg, Berlin, Bremen, Hannover, Aachen und weiteren Städten Aktionen stattfinden.

Doch der Lehman-Bankrott war mehr als nur eine weitere Bankenpleite. Das bisher Undenkbare war geschehen: George Bushs Finanzminister Henry Paulson hatte erstmals einer Großbank, die eng mit dem globalen Finanzsystem verflochten war, die Rettung durch den Staat versagt. Wie alle Großbanken wähnte sich auch die Lehman Bank im Besitz einer staatlich garantierten Lebensversicherung. Denn das Unternehmen zählte zu den Instituten, die als "too big to fail" galten: So eine Bank mit milliardenschwerer Bilanzsumme dürfe nicht scheitern, weil ihre Pleite einen unabsehbaren Dominoeffekt auslösen kann, lautete die Annahme. Sie würde auf jeden Fall gerettet werden.

Der Lehman-Crash widerlegte diesen Glauben. Das löste eine noch nie da gewesene Vertrauenskrise im globalen Finanzsystem aus, das eh schon täglich mit Panikattacken kämpfte. Die Banken fielen in eine Schockstarre, die den Kapitalzufluss immer weiter abschnürte. Frisches Geld war nur noch sehr teuer zu beschaffen. Niemand wusste, wie sehr die einzelnen Bankbilanzen mit faulen Krediten belastet waren. Die Banken hielten zudem ihr Geld zusammen, weil Anleger massenhaft Kapital abzogen. Nach der Lehman-Pleite flossen innerhalb von 48 Stunden 150 Milliarden Dollar Guthaben aus dem amerikanischen Bankensystem ab.

Die Folge dieser gefährlichen Mischung war, dass der Interbankenhandel zum Erliegen kam. Das Herz der Wirtschaft hörte auf zu schlagen. Daran konnte auch nichts ändern, dass der US-Finanzminister nur einen Tag nach der Lehman-Pleite eine 180-Grad-Kehrtwende von seiner harten Linie machte. Es war klar, dass die Welt noch einen Finanz-GAU nicht verkraften würde. Und der stand beim US-Versicherungskonzern AIG kurz bevor.

Der kämpfte am 16. September 2008 ums Überleben, weil der Konzern ebenfalls in den Strudel der US-Hypothekenkrise geraten war. Das Versicherungsunternehmen musste im großen Stil Kunden auszahlen, die sich gegen Zahlungsausfälle von Hypothekenanleihen versichert hatten. Doch anders als Lehman wurde AIG mit Steuergeldern gerettet und über Nacht verstaatlicht. Bis heute flossen etwa 180 Milliarden US-Dollar in die AIG. Die Lehman-Pleite hingegen gilt mit schätzungsweise 200 Milliarden US-Dollar Schulden, die die Bank hinterließ, als teuerster Firmencrash der USA.

Dass es vor allem der Lehman-Crash gewesen sei, der auch Deutsche Großbanken an den Rand des Abgrunds brachte, ist allerdings ein Mythos, den die Bundesregierung bis heute pflegt, um unter anderem die gut 100 Milliarden Euro zu rechtfertigen, die sie zur Rettung der deutschen Hypo Real Estate zu Verfügung stellte. Denn tatsächlich ist die Lehman-Pleite nicht Ursache, sondern Symptom einer Krise, in die auch deutsche Banken sehenden Auges hineinmarschiert sind, wofür sie jahrelang von der Bundesregierung Beistand erhielten.

Die Verlockung, mit komplizierten Finanzprodukten, die niemand wirklich verstand, scheinbar mühelos fette Gewinne einzusacken, war zu groß. Schon seit Ende der 90er-Jahre zockten auch deutsche Großbanken in der Welt der Steuerparadise, und Briefkastenfirmen. Allen voran öffentliche Landesbanken wie die WestLB, die BayernLB, die Landesbank Berlin, die HSH Nordbank und die Sachsen LB. Aber auch private Institute wie die HypoVereinsbank, die Commerzbank und die Dresdner Bank mischten mit im komplexen Geschäft der verbrieften Immobilienkredite. Sie alle gründeten dazu im Ausland Tochterfirmen, die außerhalb der Bankenbilanz auf den Kapitalmärkten mit Milliarden jonglierten.

Viele der riskanten Manöver gingen jedoch schief. Die HypoVereinsbank hatte sich zudem mit überbewerteten Immobilien in den Neuen Bundesländern verhoben, die WestLB geriet durch faule Kredite in eine existenzielle Schieflage. Die ersehnten Gewinne aus der Verbriefung von US-Immobilienkrediten sollten das ausgleichen. Die Banken bauten das Geschäft massiv aus - und konnten dabei auf die Unterstützung der Bundesregierung zählen. Die rot-grüne Koalition glaubte, deutsche Banken würden so zu großen Playern auf den internationalen Märkten werden. Mit eigens neu geschaffenen Gesetzen lockerte sie 2002 und 2003 Aufsicht und Abgaben, um die Aktivitäten der Zocker zu unterstützen.

Aber die spekulativen Geschäfte liefen immer schlechter, die Verluste türmen sich auf. Schließlich wird die Lage einzelner Institute so explosiv, dass im Februar 2003 ein geheimes Krisentreffen im Bundeswirtschaftsministerium stattfindet: Topmanager der Banken beraten mit Kanzler Gerhard Schröder, Finanzminister Hans Eichel und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement einen Rettungsplan. Die Risiken durch faule Kredite werden auf 300 Milliarden Euro geschätzt. 50 bis 100 Milliarden Euro davon sollen in eine Auffangbank verlagert werden, um "systemrelevante" Geschäftsbanken zu entlasten. Doch es passiert nichts. Die Banken dürfen weiterwurschteln. Nur die HypoVereinsbank macht 2003 einen Schnitt. Sie gliedert ihre Schrottpapiere in einer Art Bad Bank aus. Ihr Name: Hypo Real Estate.

Unter Rot-Grün arbeiten die deutschen Geldhäuser weiter an einem Ausweg, um ihre faulen Kredite loszuwerden. Im April 2004 beschließen 13 deutsche Großbanken, die Handelsplattform "True Sale International" (TSI) einzurichten. Hier können sie riskante Kredite verbriefen und an Investoren verkaufen, genauso, wie sie es in den USA gelernt hatten. Bis Mai 2009 werden hier Verbriefungsgeschäfte im dreistelligen Milliardenbereich abgewickelt.

Einer der Gründungsväter der TSI ist der heutige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Jörg Asmussen. Seine Rolle als politischer Cheflobbyist für die riskanten Verbriefungsgeschäfte hat Bundeskanzlerin Angela Merkel allerdings nicht davon abgehalten, ihn damit zu beauftragen, neue Regeln für die Finanzmärkte zu erarbeiten.

Doch bislang hat sich wenig getan. "Eine neue Weltordnung" hatte der britische Regierungschef Gordon Brown noch im April 2009 angekündet. Kein Finanzprodukt sollte ohne Regeln und Aufsicht auskommen. Daraus ist bislang nichts geworden. Auch die Reform der Aufsichtsprinzipien, ein Verbot besonders riskanter Spekulationen, eine neue Rolle für die Ratingagenturen und die Einführung einer Börsenumsatzsteuer sind bislang noch Theorie.

"Bei den Veränderungen, die nach der Lehman-Pleite als notwendig galten, um kommenden Finanzkrisen vorzubeugen, ist wenig geschehen", bedauert auch Martin Hüfner, der viele Jahre als Chefvolkswirt der HypoVereinsbank die riskanten Geschäfte aus nächster Nähe verfolgen konnte. Das betreffe etwa die Verpflichtungen für Banken, mehr Eigenkapital vorzuhalten und für mehr Transparenz zu sorgen. Hüfner sagte der taz: "Daran trägt die Politik eine Mitschuld. Ich sehe mit Sorge, dass wir jetzt zu einer Normalisierung kommen, ohne dass etwas geschieht."

Bild: taz/ap

Dieser Artikel erscheint in der Sonderausgabe der taz "Ein Jahr Lehman-Pleite" am Dienstag, 15. September 2009.

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