Eine Aphorismenexegese in sechs Teilen: Der Marshall ist die Message

Egal ob man ihn versteht oder nicht - nie hörte sich Medientheorie so sexy an wie in den Worten von Marshall McLuhan. Heute wäre der kanadische Philosoph hundert Jahre alt geworden.

"Das Medium ist die Botschaft." Nicht die Inhalte der Medien lösen danach kulturellen Wandel aus, sondern ihre technische Form - Angebot an Fernsehern in den 70er Jahren. Bild: dpa

"Wir sind die Genitalien unserer Technologie. Wir existieren nur, um das nächste Modell zu verbessern."

Schon wieder so ein Satz. Wie ein Werbeslogan, der für nichts anderes wirbt als sich selbst. Natürlich hat der Mensch den Faustkeil ebenso "gemacht" wie der Faustkeil den Menschen. Aber weder habe ich selbst, noch hat irgendwer, den ich kenne, jemals einem technischen Artefakt auch nur den leisesten Anhauch einer Verbesserung hinzugefügt.

Als ihre Nutzer sind wir zwangsläufig eingeflochten in die Matrix des Machbaren. Welt ist uns Wille, Vorstellung und Werkzeug. Deshalb sind wir eher die Kinder des Technischen, weniger die Organe zu seiner Fortpflanzung. In seiner lustvollen Zuspitzung ist also auch dieser Satz McLuhans blühender, also fruchtbarer und damit schöner Unsinn. Weil er wie eine Elfenbeinkugel von Bande zu Bande über den grünen Filz der Logik rollt, auf ihrem Weg andere Kugeln anstößt und dabei selbst nie zur Ruhe endgültiger Erkenntnis kommt.

Immerhin rollt die Kugel, was uns, wie alles, was sich bewegt, fasziniert. Vielleicht sind wir ja Brustwarzen, Kniekehlen oder andere erogene Zonen der Technologie. Darauf kommt es nicht an. Es darf sogar bezweifelt werden, dass McLuhan seinerzeit etwas nennenswert Neues prophezeit hat, das nicht schon schwungvoll im Schwange gewesen wäre. Er sagte es nur unterhaltsamer, poetischer und verrätselter als sein wissenschaftsbetrieblichen Zeitgenossen.

Wenn McLuhan wirklich das Internet prognostiziert hat, dann hat auch Demokrit das Atom vorausgeahnt und die Bhagavad Gita die Atombombe. McLuhan ist so sehr Sechzigerjahre wie die Beatles, die Raumfahrt oder LSD. Seine Eleganz macht ihn zur Heckflosse der akademischen Forschung seiner Zeit. Wer unsere Welt heute verstehen will, der sollte McLuhan ruhig McLuhan sein lassen - und besser Brian Eno hören. ARNO FRANK

"Wir leben unserem Denken immer weit voraus"

Auf YouTube kann man sich das Fernsehinterview ansehen, in dem Marshall McLuhan 1965 diesen Satz gesagt hat. McLuhan vor Bücherwand, noch ganz Gutenberg-Galaxis. Nach dem Satz folgt ein kurzes Lächeln, halb als wolle er sich Applaus abholen für diese gelungene Sentenz, halb als wolle er sein Gegenüber beruhigen: Das, was geschieht, ist zwar zu komplex und zu schnell, um von uns ganz durchdacht und damit kontrolliert zu werden - aber das ist schon okay so!

Wie so oft bei solchen allumfassenden Aussagen: Die wirklich interessante Frage ist gar nicht mal, ob der Satz stimmt oder nicht, sondern was man mit ihm anfangen kann. Und das ist eine Menge. Der Satz ist ein guter Abwehrzauber gegen Leitartikelitis: Dass Intellektuelle das Vernünftige erkennen und die Gesellschaft es dann nur noch umsetzen muss - dieses so autoritäre wie unterkomplexe Avantgardemodell zerschellt an diesem Satz. Und was kann man an seine Stelle setzen? Demut trifft es nicht ganz. Aber eine Haltung der Neugier auf das, was wirklich geschieht, auf jeden Fall.

Auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen würde ich niemals auf die Idee kommen, McLuhan als Experten heranzuziehen. Aber gerade da ist mir dieser Satz zuletzt häufiger eingefallen. Wie viele Bücher uns weismachen wollen, dass in Sachen Liebe gar nichts geht, weil die Freiheit alles verkompliziert! Und wie viele Paare das lebenspraktisch gut hinkriegen! In der Liebe leben wir unserem Denken wirklich weit voraus. Ich finde, man sollte Marshall McLuhan immer auch mit einem Lächeln sehen. DIRK KNIPPHALS

"Größeres Interesse an der Wirkung als an der Bedeutung ist eine der grundlegenden Veränderungen in unserem Zeitalter der Elektrizität"

Im Dezember 2009 - im Jahre 98 nach McLuhan - hat Google ein neues Geschäftsziel realisiert: bei Suchanfragen erhalten wir die gefundenen Informationen in einer auf uns persönlich zugeschneiderten Liste.

Dies bedeutet: Ein Atomkraftgegner bekommt andere Suchergebnisse als ein Atomkraftbefürworter; ein US-amerikanischer Republikaner findet andere Links als ein Demokrat. Das Primat der Wirkung konstruiert eine fatale Verführung - wir erhalten vorrangig Informationen, die unser Weltbild bestätigen und verstärken.

Googles magisch fix funktionierender PageRank Algorithm befehligt 500 Millionen Variablen und 2 Milliarden Termini. Nun extrahiert Google mithilfe von 57 weiteren Variablen unser persönliches Suchprofil. Algorithmen haben keine ethischen Bedenken, sie kennen keine Verwandten - außer ihrer Armee der mathematischen Funktionen. Alle Suchmaschinen klemmen sich das gespeicherte Profil unseres Suchverhaltens unter den Arm, sausen los und strukturieren die Ergebnisse gemäß unserem Interessenprofil.

Auf der Bedeutungsebene ist dies ein Skandal: Die Beute unserer Suchergebnisse ist ein vorgekautes Menü unserer Lieblingsspeisen! GABY SOHL

"Genau dann, wenn alle Menschen damit beschäftigt sind, an sich und aneinander herumzuschnüffeln, werden sie für die Vorgänge insgesamt anästhesiert."

Ich war gestern im Fitnessstudio. Kurz zwischen Arbeit und Abendessen das Hirn frei kriegen. Um dann offen zu sein für meine Verabredung. Eine tolle Frau. Ja, mit ihr würde ich mich gerne befreunden.

Auf dem Weg zum Sport noch Arbeit im Kopf. Irgendwie traurig, dass das Datenspähprogramm Elena an der Unfähigkeit des Überwachungsstaates stirbt. Und eben nicht am wutbürgernden Protest.

Auch nachgedacht, ob wir mit den Rewe-Bildern angemessen umgegangen sind. Ist ja schon n Ding. Da sammelt jemand Klebebilder und hinterher landet seine Blutgruppe im Netz. Na ja, fast. Ich hab nur einmal Bilder gesammelt. 74. War so froh, als ich Gerd Müller hatte. Dem ist Elena wohl jetzt auch egal.

Das dann aber noch nie gesehen: Eine Frau am Gerät für Beine, Po und Bauch facebookt. Meine Trainingseinheit unterbrochen. Beobachtet, wie sie im rhythmischen Schieben ein Foto macht von sich. Und zack, mit ihren Freunden teilt. Ich könnte das nicht. Mein iPad kann auch gar keine Fotos.

Draußen ein wunderbar lauer Sommerberlinabend. Lange nicht so klar gefühlt, wie gut das wirkliche Leben schmeckt. Und dabei vielleicht eine echte Freundinnenschaft geboren. INES POHL

"Das Medium ist die Botschaft."

Uff! Die legendärste aller McLuhan-Zeilen. Rauf und runter rezipiert. Auch nach fünfzig Jahren wird sie in medientheoretisch interessierten Kreisen hinausposaunt, als wäre sie noch eine große Weisheit. Eine dieser "Wie schon McLuhan sagte"-Formeln.

Wahrscheinlich ist es diese Zeile, derentwegen ich mich nie für McLuhan interessiert habe. Nicht, dass ich sie für falsch hielte. Eher ist sie eine jener Parolen, die so wahr sind, dass sie schon wieder zu einem Klischee werden. Und sie ist ja, kategorisch verstanden, sowohl falsch als auch wahr. Wahr ist, dass die Kanäle, die Medien, deren Eigenlogik, den Sprechenden an sich anschließen. Die Botschaft macht etwas aus dem, der spricht, er ist nicht Herr seiner Botschaft. Das Medium benutzt ihn, und nicht er allein das Medium. The Media is the Message - ja, eh, wissen wir schon, danke schön!

Und in ihrer besserwisserischen Version, verstanden als: "Das Medium ist alles, die Botschaft nichts", ist die Zeile ja auch ein bisschen falsch. Aber in gewissem Sinn richtet sie sich gegen ihren Urheber, so wie das Frankenstein-Monster, das sich gegen seinen Erschaffer richtet. Denn steckt in dem Formel-, Sloganhaften nicht auch ein performative Bestätigung des Gesagten selbst? Von der Art: "Ich muss einen Einzeiler schaffen, den sich alle Welt merkt."

Dann ist die Pointe alles, hinter der der Inhalt des Satzes längst verschwunden ist. Was sie sachlich aussagt, wird schnell zum Dekor hinter der Phrase. Steile These, heute etwas flach. Wobei es natürlich ihre geniale Wahrheit ist, die sie zur Banalität macht. ROBERT MISIK

"Terror ist der Normalzustand jeder oralen Gesellschaft, weil in ihr zu jeder Zeit jedes eine Wirkung auf alles ausübt."

Als Marshall McLuhan in den 1960ern das globale Dorf ausrief, wurde er von den Hippies gründlich missverstanden. Sie dachten, das Global Village sei was Schönes, Heimeliges und Freundliches. McLuhan wunderte das nicht. Er nahm an, dass die Sehnsucht nach Ganzheit und Empathie ein "natürliches Attribut der Elektrotechnik" sei.

Die "mit Lichtgeschwindigkeit" übertragenen Botschaften von Telefon, Radio, TV und Computer lassen Zeit und Raum implodieren. Sie fordern von jedem und jeder Einzelnen, sich an die neue globale Umwelt anzupassen, als sei sie "seine kleine Heimatstadt". Wir kehren zur Stammesgesellschaft zurück mit allen unangenehmen Tendenzen, die das Dorf als Lebensform so mit sich bringt.

Wir müssen partizipieren, ob wir wollen oder nicht. Gerüchte rasen in Lichtgeschwindigkeit um den Erdball. Die Paranoia regiert. Das lesende Individuum der europäischen Moderne wird abgelöst durch einen Zustand kollektiver Identität. Als Moderner bezeichnen darf sich also, wer diesen Text bis hierher gelesen hat. Allein ist er oder sie trotzdem nicht, wenn es nach McLuhan geht: "Im elektrischen Zeitalter tragen wir die ganze Menschheit als unsere eigene Haut." ULRICH GUTMAIR

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.