Eine schrecklich wahre Weihnachtsgeschichte: Steine und Scherben

Wie das ist, wenn nie kommt, was man sich wünscht – und mit Rio Reiser die Rettung naht.

Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Nie bekamen wir das, was wir uns wünschten. Wir wollten in den Urlaub, meine Eltern wollten lieber ein Haus bauen. Wir wollten mehr Taschengeld, meine Eltern wollten lieber ein Haus bauen. Wir wollten unsere Eltern, die aber mussten ein Haus bauen, mit eigenen Händen, von morgens bis abends, denn Handwerker sind teuer. Wir wollten auch, dass unsere Eltern nicht dauernd stritten und dass meine Mutter nicht immer herumschrie und Geschirr an die Wand schmiss. Die aber hatte es mit den Nerven, denn so ein Hausbau ist sehr anstrengend.

Während meine Eltern abwechselnd stritten und auf der Baustelle arbeiteten, mussten wir uns mit drei Geschwistern ein winziges Kinderzimmer in einer winzigen Wohnung teilen. Das sparte Geld, das meine Eltern für das Haus brauchten, denn so ein Haus ist teuer. Wir aber wollten eigene Zimmer. Die bekamen wir auch, als das Haus endlich fertig war: Mein älterer Bruder bekam das größte, ich das mittlere und mein jüngerer Bruder das kleinste Zimmer. Dort gab es kaum Platz für ein vernünftiges Bett. Vielleicht haben meine Eltern ja gedacht, wir würden nicht mehr wachsen und mein kleiner Bruder ewig fünf Jahre alt bleiben. Schließlich hatten sie‚s jetzt zu etwas gebracht, und vielleicht bleibt die Zeit ja stehen, wenn endlich feststeht: Man hat‚s geschafft.

Auch zu Weihnachten bekamen wir nie das, was wir uns wünschten. Das hatte manchmal damit zu tun, dass unsere Wünsche zu teuer waren. Schließlich hatten wir ja ein Haus, und zwar nicht irgendeins, sondern »das schönste Haus im ganzen Dorf«, sagte meine Mutter, und das musste abbezahlt werden. Was sind schon Markenjeans gegen ein so schönes Haus? Undankbare Kinder hatte sie, gierig und egoistisch und unfähig, dieses wunderschöne Haus wertzuschätzen. Manchmal hatte es aber auch damit zu tun, dass wir nicht nur gierig und egoistisch waren, sondern überdies keinen guten Geschmack hatten. Den aber besaß meine Mutter, schließlich hatte sie ja auch das schönste Haus im Ort gebaut. Mit eigenen Händen!

So wünschte sich mein älterer Bruder eine weinrote Feincordhose, das war in den frühen achtziger Jahren hip bei coolen Jungs. Er bekam eine jägergrüne Breitcordhose und machte sich damit zum Gespött der ganzen Schule. Meine Mutter fand sie schick und sagte, die anderen hätten alle keine Ahnung. Das kannst Du doch schon an den popeligen Häusern von ihren Eltern sehen, sagte sie. Ich wollte eine Jeansjacke und bekam ein Jeans-Blouson mit Schulterpolstern. Die durfte ich auch nicht entfernen, denn meine Mutter fand sie flott. Hosen mussten in den achtziger Jahren hochgekrempelt werden, sonst war man unten durch. Ich durfte das nicht, denn das sah unmöglich aus, fand meine Mutter. Ich krempelte die Hosenbeine hoch, sobald ich das schönste Haus im Landkreis verlassen hatte, und ließ sie wieder runter, wenn ich heim kam. Meine Mutter sah die dadurch entstandenen Falten und strich mein Taschengeld für drei Wochen.

Der Text ist erschienen in dem Buch „Holy Horror Christmas – Das Grauen kehrt zurück. 50 + 5 schrecklich wahre Weihnachtsgeschichten“ von Marco Carini (Hg.), Konkret Literatur Verlag 2015, 160 S., 12,90 Euro

War das Taschengeld mal nicht gestrichen, reichte es kaum für das, was man so brauchte als ordentlicher Jugendlicher. Schallplatten zum Beispiel waren nicht drin. Ich nahm die Platten meiner Freunde auf Kassetten auf. Die konnte ich mir gerade noch so leisten. Ich besaß, als ich zwanzig war, ungefähr tausend Kassetten und vielleicht fünfzig Platten. Von denen war die Hälfte Schrott, denn dabei handelte es sich um Weihnachtsgeschenke meiner Eltern, die auch hier trotz eindeutiger, weil schriftlich geäußerter Wünsche stets den besseren Musikgeschmack hatten oder aber von ihrer Mitgliedschaft im Bertelsmann-Buchclub profitierten, wo sie günstiger an »ähnliche Musik« kamen.

Als ich fünfzehn war, hatte ich Rio Reiser kennengelernt und wünschte mir zu Weihnachten das Album mit dem Song »Junimond«. Ich bekam stattdessen die Platte »Ton Steine Scherben live in Berlin 1984«. Auf dem Cover pappte ein Aufkleber: »Mit dem König von Deutschland: Rio Reiser«. Ich war stinksauer. Wahrscheinlich hatte die Platte direkt neben dem gewünschten Album gelegen, war aber zehn Mark billiger, und meine Mutter dachte: »Ach, da kann ich ja wieder Geld sparen für das schönste Haus im Bundesland. Wird sich schon nicht groß unterscheiden, ist ja schließlich derselbe Sänger.« Ich kannte keinen einzigen Song.

Dieses Weihnachten war ohnehin noch katastrophaler als alle vorherigen, denn ein paar Monate zuvor war mein Vater ausgezogen. Als im schönsten Haus der Republik nichts mehr war, das meine Mutter gegen die Wand deppern konnte, hatte sie im großen Finale meinem Vater den Absatz eines Stöckelschuhs in die Wade gerammt. Seine letzten Worte, bevor er das Haus verließ, lauteten: »Du Sau.« Leider wurde es seitdem nicht friedlicher im Traumhaus, denn nun ließ meine Mutter all ihren Frust an uns aus. War sie zwischendurch mal kraftlos oder heiser, dann beweinte sie ihr Schicksal. An jenem Heiligen Abend jedoch hatte sie sowohl Stimme als auch Kraft und bereits das eine oder andere Gläschen Portugieser Weißherbst getrunken und verlangte nun ganz aufgedreht, dass ich meine »schöne neue Platte« auflegte.

Ich wollte nicht, ich war stocksauer, ich hätte mit der Platte am liebsten das gemacht, was meine Mutter alle sechs Wochen mit dem Geschirr tat. Aber ich traute mich nicht und wollte auch nicht, dass sie ausgerechnet an Weihnachten einen ihrer Zusammenbrüche bekam. Also legte ich die Platte auf. »Ich will nicht werden, was mein Alter ist.« Mein älterer Bruder fing an zu grinsen, meine Mutter ließ sich nichts anmerken. »Verboten«. Meine Mutter bat darum, die Anlage ein bisschen leiser zu stellen, das sei ja ganz flott, aber doch auch sehr laut. Bei »Feierabend« wippte sie gequält ein wenig mit dem Fuß, den »Shit-Hit«, sagte sie schmallippig, verstünde sie nicht. Und leider habe sie nun auch Kopfweh und könne heute keine Musik mehr ertragen. Bis zu »Keine Macht für niemand« kamen wir an diesem Abend also nicht mehr, aber das machte nichts: Ich hatte einen Schatz zu Weihnachten bekommen, das wusste ich nun. Der Junimond war vergessen.

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